Kämpfe in der Ostukraine: Die Einschläge kommen näher
Die Stadt Slowjansk im Donbass liegt nur 15 Kilometer von der Front entfernt. Dennoch harren viele Bewohner weiter aus.
„Alle hatten Angst, alles erzitterte. Über unsere Köpfe sind schon oft Granaten hinweg geflogen, aber so einen Einschlag gab es noch nie. Gott sei dank ist heute niemand verletzt worden“, sagt Natalja mit Tränen in den Augen. Sie lebt am Stadtrand von Slowjansk im Gebiet Donezk. Die Frontlinie verläuft 15 Kilometer von hier.
Zum Zeitpunkt des Raketenangriffes hielten sich in allen Häusern rundherum Menschen auf, nur das getroffene Haus stand leer. Der Besitzer und seine Familie waren vor einigen Wochen evakuiert worden. Als sie Slowjansk verließen, deponierten sie den Schlüssel in einem Blumenbeet in der Nähe des Eingangs und sagten den Nachbarn, sie könnten in dem Haus Zuflucht suchen, falls das nötig sein würde.
Jetzt ist von dem Haus nur noch eine Ruine geblieben, doch der Schlüssel liegt immer noch in der Rabatte.
Explosionen im Morgengrauen
„Das war das schönste Haus in der ganzen Straße, mit einem Zaun aus Stein, einem großen Pavillon im Hof und vielen Blumen. Alle Nachbarn waren darin verliebt“, erzählt die 70-jährige Nina Iwanowa, die im Nachbarhaus wohnt, dessen Dach von der Explosion weggefegt wurde. Gerade sammelt sie die Reste von zerbrochenen Fenstern auf, die in allen Räumen des Hauses verstreut sind.
Auch ein Haus auf der anderen Seite der Einschlagsstelle hatten dessen Bewohner vor einigen Wochen verlassen. Doch dann kam der Besitzer zurück, um nach dem Rechten zu sehen und noch einige Sachen zu holen. Er blieb über Nacht, um dann am nächsten Morgen zu seiner Familie zurückzukehren. Die Explosion im Morgengrauen hat einen Teil des Hauses zerstört, der Mann selbst wurde auf die Straße geschleudert.
Ein Stück vom Zaun des Nachbarn hängt noch in einem Baum ganz in der Nähe dieses Hauses. Der Mann habe einen Schock erlitten, sei einfach irgendwohin gelaufen, doch bis jetzt noch nicht wieder zurück gekommen, sagen die Nachbarn.
„Wann wird das alles enden?“, fragt die 54-jährige Maria. Sie wohnt ebenfalls in dieser Straße und hilft den Nachbarn, die gröbsten Schäden zu beseitigen. Sie hatte Glück – nur das Tor ihrer Garage wurde bei dem Angriff beschädigt. „Die Besatzer kommen immer näher, aber bald werden wir sie vertreiben“, sagt die lebhafte Frau. Vor 30 Jahren ist sie aus Belarus in die Ukraine gekommen. Und sie fügt hinzu: „Früher habe ich gedacht, dass Alexander Lukaschenko ein normaler Präsident sei. Doch jetzt weiß ich, dass ich mich geirrt habe. Er ist nicht besser als Putin.“
Als ihr einfällt, dass wir an einem Ort sind, wo vor einigen Stunden mehrere Häuser durch einen Raketenangriff beschädigt wurden, sagt sie plötzlich: „Raten Sie mal, was ich in meinem Keller habe? Eine Flasche Sekt. Ich habe sie dort abgestellt und mir immer gesagt, dass ich sie öffnen werde, wenn der Tag des Sieges kommt. So sitze ich jetzt während der Angriffe im Keller, sehe mir die Flasche an und denke an unseren Sieg.“
Schule getroffen
Bereits einen Tag zuvor hatte es früh morgens eine Explosion gegeben, mehrere Menschen wurden getötet, ein Dutzend verletzt.
Beobachtungen von Einheimischen zufolge soll es sich um eine Iskander-Rakete gehandelt haben. Deren Ziel war offensichtlich kein militärisches Objekt, das gibt es hier gar nicht. Die Rakete zerstörte zwei Gebäude einer Schule und mehrere nahe gelegene Wohnhäuser. Anwohner, Schulbedienstete und Mitarbeiter der Stadtverwaltung sind immer noch damit beschäftigt, den Schutt wegzuräumen.
Vor einem Hauseingang lädt ein junger Mann eine Waschmaschine, Stühle, eine Garderobe und sogar einen Kristalllüster auf einen Anhänger, der die Explosion heil überstanden hat. „Das ist alles, was noch übrig ist. Das stelle ich jetzt bei einem Freund unter und warte auf bessere Zeiten“, sagt er.
Auf die Frage, warum sie noch nicht evakuiert worden seien, lautet die Antwort der Anwohner unisono: Sie wollten nicht ins Ungewisse aufbrechen. Zu Hause sei es leichter, den Krieg zu überstehen, als in einer Flüchtlingsunterkunft. „Ich verstehe, dass es hier bald genauso sein wird wie in Sewerodonezk oder Mariupol, aber ich werde bis zuletzt ausharren“, sagt der 73jährige Pjotr Iwanowitsch. Jetzt wird er seinem Freund helfen, die zerbrochenen Fenster notdürftig mit Sperrholz zu verkleiden.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“