Infrastruktur in der Ukraine: Statistik der Zerstörung
Tausende Wohnungen, Krankenhäuser und Schulen sind dem Krieg bereits zum Opfer gefallen. Ein Wiederaufbau könnte zehn Jahre dauern.
Im Kyjiwer Gebiet gibt es viele Familien in ganz ähnlichen Situationen wie Olexander, ohne Dach über dem Kopf. Die lokalen Behörden sprechen von 161 total zerstörten Mehrgeschossern und 4.674 kaputten Einfamilienhäusern. Bislang wurden in der Ukraine rund 40 Millionen Quadratmeter Wohnraum zerstört.
Insgesamt belaufen sich im Land verschiedenen Schätzungen zufolge die direkten Verluste bei der Infrastruktur und der ukrainischen Wirtschaft auf 600 Milliarden Dollar. Und diese Verluste, so der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal, werden von Tag zu Tag größer, denn die Kampfhandlungen und Raketenangriffe dauern an.
Krankenhäuser und Schulen
Dieses Jahr müssen Tausende ukrainische Schulkinder zu Hause lernen, und das nicht nur wegen des Home Schoolings, sondern weil viele Schulen nicht mehr nutzbar sind. Nach Angaben aus dem Büro des ukrainischen Generalstaatsanwaltes wurden schon mehr als 1.800 Bildungseinrichtungen bei Kampfhandlungen zerstört – also Kindergärten, Schulen und Universitäten, 95 davon vollständig.
Von den Objekten der sozialen Infrastruktur in der Ukraine, die unter den russischen Angriffen gelitten haben, sind die meisten Krankenhäuser. Mit Stand Mai 2022 wurden in der Ukraine bereits 600 medizinische Einrichtungen zerstört, 101 davon vollständig.
Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko gibt an, dass die Krankenhäuser, abhängig von der Region, in der sie sich befinden, unterschiedlich stark zerstört seien. An einigen Orten reicht es, neue Fenster einzusetzen. Anderenorts müssen komplett neue Gebäude errichtet werden.
Ljaschko sagte auch, dass es nicht immer möglich sei, aus den besetzen Gebieten vollständige und verlässliche Angaben über den Zustand der medizinischen Infrastruktur zu erhalten. „Wir kennen nicht die exakten Verluste in Mariupol, Wolnowacha, in Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk, und auch nicht in den Gebieten Cherson und Saporischschja “, so der Minister.
Im Ukrainischen Gesundheitszentrum (UHC), einer Nichtregierungsorgansiation, wird sorgfältig jeder Angriff auf medizinische Objekte aufgelistet, um später die Russische Föderation vor internationalen Gerichten für Verletzungen von Konventionen zu verklagen. „Am Beispiel der Ukraine wollen wir zeigen, dass Russland zielgerichtet und systematisch die Gesundheitsfrage als Instrument der Kriegsführung missbraucht“, sagte der Mitbegründer des UHC, Pawlo Kowtonjuk. Er ist davon überzeugt, dass die Angriffe auf ukrainische Krankenhäuser kein Zufall sind, sondern so etwas wie begleitende Kampfmaßnahmen.
In der Weltgesundheitsorganisation WHO betrachtet man diese Angriffe ebenfalls als Verstoß gegen internationale Menschenrechte und als Kriegsverbrechen. Aktuell verzeichnet die WHO schon mehr als 200 solcher Vorfälle in der Ukraine.
Straßen und Brücken
Ein weiterer stark vom Krieg betroffener Bereich der ukrainischen Infrastruktur sind Straßen und Brücken. Die Staatliche Agentur für Straßenwesen in der Ukraine (Ukrawtodor) beziffert die Verluste hier auf um die 30 Milliarden Dollar.
„Das sind 24.000 Kilometer Straßen, von denen 9.000 staatliche Straßen sind“, sagte Andri Iwko von Ukrawtodor. Er sagt auch, dass der vollständige Wiederaufbau drei bis vier Jahre dauern würde, wenn die erforderlichen Mittel zur Verfügung stünden.
Derzeit beschäftigt sich die Organisation mit der Wiederherstellung von Verkehrswegen in den Gebieten, die nicht mehr russisch okkupiert sind. In Irpin, Butscha und Hostomel wurden schon 500 Kilometer Straßen und Wege erneuert. Anstelle der 37 zerstörten Brücken wurden 17 temporäre Überquerungen gebaut, auf denen schon jetzt der Verkehr fließt.
Iwko merkt an, dass die Hauptaufgabe nun sei, so schnell wie möglich die Verkehrswege dort wieder herzustellen, wo Brücken zerstört worden waren. Er bezieht sich dabei hauptsächlich auf die Gebiete Kyjiw und Tschernihiw. „Noch kommen wir nicht überall hin, weil die Gebiete noch nicht alle minenfrei sind. Wir haben Verbindungen über Flüsse wieder hergestellt, aber das sind einstweilen noch Provisorien. Die richtigen Bauarbeiten können erst nach Kriegsende beginnen“, erklärt Roman Smijanenko, der Leiter der Straßenverwaltung im Gebiet Tschernihiw.
Kirchen und Museen
Auch das kulturelle Erbe der Ukraine hat unter dem starken Beschuss vonseiten der russischen Armee gelitten. Ins Visier genommen wurden religiöse Stätten, Museen, Galerien und Theater.
Am 27. Mai nannte das ukrainische Kulturministerium 367 Verbrechen gegen Einrichtungen des kulturellen Erbes der Ukraine. Bekannt ist derzeit die vollständige Zerstörung von neun Kulturobjekten, der Zustand von 23 weiteren ist nicht bekannt. Die stärksten Zerstörungen wurden aus Charkiw und Umgebung bekannt sowie aus Mariupol und dem Kreis Butscha bei Kyjiw.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Zu den Objekten, die am stärksten von Zerstörungen betroffen sind, gehören orthodoxe und katholische Kirchen, protestantische Gebetshäuser, Moscheen und Synagogen. Das ukrainische Kulturministerium hat dazu eine interaktive Karte erstellt, auf der diese zerstörten Gebäude verzeichnet sind. Dort wird ersichtlich, dass der Großteil der zerstörten Gotteshäuser zur orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats gehört – mehr als 40 Objekte im Norden und Osten der Ukraine.
Außerdem wurden 42 Denkmäler, 29 Museen und Naturschutzgebiete, 74 Kulturhäuser, Theater und Bibliotheken sowie historische Gebäude zerstört. Darunter auch das Dramatheater in Mariupol.
Wiederaufbau?
Im Verlauf der Kampfhandlungen hat in den letzten drei Monaten auch die Luftfahrtinfrastruktur der Ukraine stark gelitten. Im Januar 2022 waren im Land 36 Flugplätze registriert, darunter 17 internationale Flughäfen. Bis heute wurden elf dieser Flughäfen zerstört.
In der Ukraine gab es bis zum Krieg 15 Wärmekraftwerke und 12 Wasserkraftwerke, sieben davon sind jetzt kaputt, das sind etwas mehr als ein Viertel. Zudem hat das Land rund 200 Fabriken verloren, was zur Schließung von 17 Prozent aller Unternehmen führte.
Nach verschiedenen Experteneinschätzungen werden für den kompletten Wiederaufbau aller zerstörten Infrastruktureinrichtungen etwa zehn Jahre benötigt. Doch bereits jetzt ist klar, dass als Folge des russischen Großangriffs auf die Ukraine ein umfassender Wiederaufbau des Landes erforderlich ist. Die ukrainische Regierung setzt dabei auf die Hilfe internationaler Partner – und erwartet, dass das Aggressorland für die angerichteten Schäden bezahlt.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Umwälzungen in Syrien
Aufstieg und Fall der Familie Assad