Kämpfe im Osten der Ukraine: Da, wo die Russen schon mal waren
Die ostukrainischen Städte Slowjansk und Lyman erwarten einen Überfall Moskaus. 2014 regierten dort prorussische Kräfte, 2022 wurde Lyman kurz besetzt.
Slowjansk hat sich mit den Jahren zu einem Zentrum der chemischen Industrie entwickelt und ist, als Autobahn- und Eisenbahnknotenpunkt, strategisch wichtig. An diesem frostigen Februarmorgen scheint der Krieg, der hier neun Jahre tobt, weit weg.
Von besonderer Bedeutung sowohl für die ukrainische als auch die russische Regierung ist Slowjansk aufgrund der Ereignisse im April 2014, als prorussische Bewohner*innen den Sitz des ukrainischen Geheimdienstes SBU besetzten. Dies war der Beginn des Kriegs im Donbass. Im Juli 2014, und im Zuge des sogenannten Euro-Maidan, eine nationalistische Wendung, kämpfte die ukrainische Armee die Stadt wieder frei. Ende Februar 2022 hatte Russland die selbst ernannten Volksrepubliken von Donetsk und Luhansk als unabhängig anerkannt; mit der Ratifikation eines Beitrittsvertrags durch den russischen Föderationsrat wurden sie im Oktober von der Russischen Föderation annektiert. Heute ist der Rathausplatz mit dem ukrainischen blau-goldenen Wappen Trýzub.
Die wenigen Einwohner*innen, die in der Stadt geblieben sind, versuchen wieder, so etwas wie Alltag zu leben. Was 2014 geschah scheint weit weg zu sein. Valeria raucht vor ihrem Friseursalon: „Egal, wer hier regiert – ob Ukrainer oder Russen – mein Geschäft schließe ich nicht!“ Die Friseurin erzählt, dass die Einwohner*innen sich vor allem als Slowjansker*innen fühlten.
Slowjansk war immer eine multikulturelle Stadt
„Dieser Krieg ist ein Konflikt der Politiker. Russisch ist unsere Muttersprache, wir wollen jedoch nicht von Russland gerettet werden. Aber warum hat unsere Stimme bei der Regierung in Kyjiw kein Gehör gefunden, bevor sie die Reformen als Folge des Euro-Maidan angefangen hat umzusetzen? Slowjansk war immer eine multikulturelle Stadt mit Usbek*innen, Pol*innen, Tschech*innen und Russ*innen – nicht nur Ukrainer*innen.“
Luba aus Lyman
Nicht weit von Valerias Friseursalon befindet sich auch das Zivilkrankenhaus, in dem Julia als Oberschwester arbeitet. Viele Vertriebene, meistens ältere Menschen, werden dort behandelt. „In den letzten Tagen ist die Lage schlimmer geworden“, sagt sie.
Das seien vielleicht Vorboten der angekündigten russischen Offensive rund um den 24. Februar, den ersten Jahrestag des Kriegsbeginns. Hautprobleme bei Patient*innen als Folge mangelnder Hygiene und langen Aufenthalten in feuchten Kellern häuften sich. Der Überfall durch prorussische Kräfte im April 2014 sei eine unglaublich schwierige Zeit gewesen: „Ich bin Ukrainerin und fühle mich auch so. Ich möchte überhaupt nichts mit Russland zu tun haben.“ Zu der Frage, ob jemand aus Slowjansk, der oder die sich mit Russland verbunden fühlt, sich inzwischen darüber frei äußern darf, möchte Valeria nichts antworten. „Ich bin und fühle mich Ukrainerin, mehr möchte ich dazu nichts sagen.“
Das gesamte Eisenbahnnetz ist verwüstet
Circa 28 Kilometer nördlich von Slowjansk liegt die leicht bergige Stadt Lyman. Die Stadt mit einst 20.000 Bewohner*innen ist von Wäldern umgeben, die Temperatur liegt oft unter dem Gefrierpunkt. Die Feinde Kyjiws hatten Lyman im vergangen Jahr besetzt und hielten sie bis Ende September, als sie von der ukrainischen Armee eingekesselt wurden. Die Ortschaft ist ebenfalls ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, um den Nachschub für die russischen Streitkräfte sicherzustellen.
Empfohlener externer Inhalt
Die Straße, die Slowjansk und Lyman verbindet, erzählt vom Krieg: von Granaten zerfetzte Bäume, eingestürzte Brücken, Schützengräben und verlassene getarnte Panzer am Straßenrand. Je näher man dem Stadtzentrum kommt, desto größer ist das Ausmaß der Zerstörung: Das gesamte Eisenbahnnetz ist verwüstet, Hunderte von Häusern und Geschäften sind niedergebrannt. Trotz Explosionen als Hintergrundmusik lassen sich noch einige Bewohner*innen auf der Straße blicken. Die versuchen Wasser, Kartoffeln oder wichtige Medikamente aufzutreiben.
Die russische Besatzung von vergangenem Mai bis Oktober verbrachte der Pfarrer Ewgen im Keller der Kirche Sankt Nikolas zusammen mit einem Kirchendiener. Jetzt, vier Monate später, hält Ewgen eine Messe in einer winzigen unterirdischen Kapelle des Tempels ab, die einem Militärbunker ähnelt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Über Lenins Kopf fliegen Raketen hinweg
Während draußen Detonationen die Stille zerreißen, singt eine Handvoll Gemeindemitglieder in der Dunkelheit und hält kleine Kerzen, deren brennendes Wachs auf die Frostbeulen tropft. „Die Russen haben mich in Ruhe gelassen. Ich musste mich nur ein Mal in der Woche persönlich auf der Polizeiwache melden“, erzählt der Pfarrer nach der Messe. „Aber falls sie Lyman noch einmal erobern, werde ich die Stadt verlassen, denn sie würden mich umbringen. Die russische und die ukrainische orthodoxe Kirche verstehen sich leider nicht mehr.“
Vor der Kirche, in der Hauptallee, steht eine große weiße Lenin-Büste, mit einem schwarzen aufgemalten Hitler-ähnlichen Schnurrbart. Um die Büste herum liegt nur Schnee – auch weiß. „Über Lenins Kopf fliegen seit Monaten russische und ukrainische Raketen hinweg“, erzählt Luba, eine der wenigen jungen Frauen in Lyman. „Die russischen Truppen befinden sich in der unmittelbaren Umgebung. Viele hier freuen sich auf sie. Das sind Leute, die teilweise den Russen während der Besatzung letztes Jahres geholfen haben und auf eine neue Chance hoffen. Russland möchte die Sache zu Ende bringen.“ Kurz nachdem Luba den Satz beendet hat, läuft sie weg. Auf keinen Fall möchte sie fotografiert werden, denn sie hat Angst, sollten die russischen Truppen demnächst in die Stadt eindringen.
Aus dem Spanischen Gemma Terés Arilla
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen