piwik no script img

Kachowka-Staudamm nach der Zerstörung„Erdgeschoss überschwemmt!!! SOS“

Neben Hilfsorganisationen helfen Tausende, die Bevölkerung in der Region Cherson zu evakuieren. Doch es droht schon die nächste Gefahr.

In Cherson ist die Evakuierung in vollem Gange Foto: Alexei Konovalov/Imago

Berlin taz | Tausende Menschen haben sich unmittelbar nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms nahe der Stadt Cherson in der gleichnamigen Region über Kurznachrichtendienste vernetzt. Ihr Ziel: so schnell wie möglich ein Netzwerk von privaten Freiwilligen aufzubauen, um Menschen aus Häusern bzw. von Dächern zu retten. „Dorf Oleschky, Laherna Straße 35. 16 Personen warten auf ihre Evakuierung. Frauen und Menschen mit Behinderungen. Sie wären sehr dankbar, wenn sie an das linke Ufer evakuiert werden könnten“, schreibt eine Person.

„Keine Evakuierung zum linken Ufer, das ist unrealistisch“, antwortet eine Sekunde später eine Lena, die auf die russische Besatzung des linken Ufers des Flusses Dnipro hinweist. Nur die Stadt Cherson konnte von den ukrainischen Streitkräften im vergangenen November wieder erobert werden. Dann kommt die Nachricht von Katya: „Dorf Kardaschinka, Genossenschaft Tavria. Straße Kvartalnaya 33, Haus 216. 2 Rentner (Katze + 2 Hunde). Das Erdgeschoss ist komplett überschwemmt!!! SOS“.

Neben den lokalen und internationalen Hilfsorganisationen bilden solche informellen Netzwerke von Freiwilligen den Kern der Flucht- und Rettungsaktionen seit dem 24. Februar 2022. Internetverbindungen, Strom- und Wasserversorgung sind Mangelware in vielen Orten und solche virtuelle Mund-zu Mund-Kommunikation hilft dabei, Lücken zu füllen. Und viele Leben zu retten.

Nach Angaben ukrainischer Behörden wurden bis jetzt 6.000 Menschen auf beiden Seiten des Dnipro evakuiert. „1.894“, verkündete Ukraines Innenminister Igor Klymenko laut Nachrichtenagentur AFP. „4.000“, schrieb der von Russland eingesetzte Gouverneur in der Region Cherson, Wladimir Saldo, via Telegram.

Ist das Getreideabkommen in Gefahr?

Am Donnerstag, zwei Tage nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms, ist die Ursache dafür immer noch unklar. Kyjiw spricht weiter vom russischen Angriff. Moskau beschuldigt seinerseits die Ukraine. Auf Vorschlag des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, danach vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski angekündigt, soll nun eine internationale Untersuchung die Ursachen herausfinden. Selenski selbst war am Donnerstag in Cherson, um sich vor Ort ein Bild von den Schäden zu machen. In der Gemeinde Snihurivka wurde eine Katastrophenschutzzentrale eingerichtet, die rund um die Uhr arbeitet.

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges versucht der im Mai wiedergewählte türkische Präsident Erdoğan als internationaler Akteur und Vermittler zu punkten. Denn im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine sitzt das Nato-Mitglied Türkei mit am Tisch, wenn über Gefangenenaustausche und das Schwarzmeer-Getreideabkommen verhandelt wird.

Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms könnte jetzt den Getreide-Deal gefährden. Die Ukraine ist der weltweit führende Erzeuger und Exporteur von Getreide und Ölsaaten. Nach Angaben des ukrainischen Agrarministeriums droht mit der Flutkatastrophe im Süden des Landes ein mehrere Milliarden Tonnen großer Ernteausfall. Einerseits wurden mindestens Zehntausende Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche überschwemmt, andererseits würden mindestens 500.000 Hektar Land künftig ohne Bewässerung auskommen müssen.

Parallel dazu äußerte sich Moskau erneut zum kürzlich verlängerten Getreideabkommen. Russland machte zur Bedingung, der Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer auch weiterhin zuzustimmen, die Wiedereröffnung der weltweit längsten Pipeline für Ammoniak, die Toljatti-Odessa-Pipeline. Sie wurde am Mittwoch angegriffen und ist seit Kriegsbeginn ungenutzt. Auch am Donnerstag wurde in Cherson geschossen.

Der Wasserstand des Kachowkaer Stausees nähert sich inzwischen einem gefährlichen Tiefpunkt. 150 Kilometer nördlich von Nowa Kachowka liegt das größte Atomkraftwerk Europas, Saporischschja. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) versichert, dass das AKW über genügend Wasser verfüge, um die Reaktoren für „mehrere Monate“ aus einem Becken oberhalb des Stausees zu kühlen. Am Donnerstagabend hieß es dann vom AKW-Betreiber via AFP, dass das Wasser aus dem Stausee doch nicht mehr für die Kühlung von Saporischschja reiche.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • „Keine Evakuierung zum rechten Ufer, das ist unrealistisch“, antwortet eine Sekunde später eine Lena, die auf die russische Besatzung des rechten Ufers des Flusses Dnipro hinweist.“

    Hier hat sich ein Fehler eingeschlichen:



    Das ,,rechte Ufer" ist das freie, nördliche Ufer.



    Oleschky liegt am linken Ufer im besetzten Teil.



    (Rechts/ links bezieht sich auf die Fließrichtung eines Flusses)

    So entsteht hier der Eindruck, die Leute wollten zu den Russen evakuiert werden...

    • @Ruhrpott-ler:

      Fiel mir auch auf. Kann es aber sein, dass das nach den ukrainischen Gepflogenheiten anders herum definiert wird?

  • Es wäre mal wieder an der Zeit, nach den unsäglichen Forderungen des Dilettanten Söder, der Bayern zum AKW-Betreiber umfunktionieren wollte, zusammenzustellen, wie viele AKWs in Europa in den letzten Jahren Probleme hatten. Aktuell ist es das größte in der Ukraine, letztes Jahr war in F etwa die Hälfte nicht intakt, u. A. wegen Niderigwasser. Es gibt genügend Weitere, die immer wieder Probleme machten. Deshalb neue, bessere bauen zu wollen, scheint sinnvoll, nur die Standardprobleme, nicht versicherbar, keine Endlager und vieles mehr sind nach wie vor nicht gelöst. Offensichtlich, so makaber es ist und so schlimm für völlig Unschuldige, bedarf es eines SuperGAUS, damit die Träumer:innen aufwachen.

  • Wer das getan hat, wusste was er tut - tausende Menschen mit Terror überziehen. Wer Raketen und Drohnen gezielt in Wohnhäuser lenkt, nur der schreckt davor auch nicht zurück. Russland muss dafür geradestehen!

  • Die Getreideproduktion zu behindern war vermutlich einer der Gründe dafür, dass Putin den Damm hat sprengen lassen. Putin will die ganze Welt erpressen.

    • Annette Hauschild , Autor*in ,
      @Gnutellabrot Merz:

      Immer langsam mit den Vermutungen und Spekulationen. Wir wissen noch nicht, was die Ursache des Dammbruchs war. Neuere Nachrichten von heute, 9.6. um 9:04 Uhr, berichten, dass eine der russischen Opposition nahestehende Recherchegruppe namens CIT mit Satelitenbildern herausgefunden habe, dass aufgrund von Fahrlässigkeit der russischen Besatzer der Damm gebrochen sei.







      www.n-tv.de/politi...ticle24178248.html

      Warten Sie doch erst mal die Untersuchungen ab und glauben nicht vorschnell der einen oder anderen Kriegspartei.