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Justiz in RusslandAbsurdes Theater

Der Kremlkritiker Alexei Nawalny muss für dreieinhalb Jahre in Haft, ein Jahr Hausarrest wird abgezogen. Der Prozess ist so absurd wie hochpolitisch.

St. Petersburg am Dienstagabend: Mitglieder der russischen Nationalgarde an einer zentralen Allee Foto: ap

Moskau taz | Nach zwölf Stunden rattert die Richterin ihre Entscheidung herunter: Alexei Nawalny muss für mehrere Jahre in die Strafkolonie. Die Bewährungsstrafe des Kreml-Kritikers von 3,5 Jahren ist damit in eine reale Strafe umgewandelt worden, der bereits abgesessene Hausarrest von einem Jahr in dem Fall wird angerechnet, es bleiben also 2,5 Jahre Freiheitsentzug.

Das Moskauer Stadtgericht sieht es als erwiesen an, dass der 44-Jährige gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hat, weil er sich während seines Aufenthaltes in Deutschland nicht bei den Behörden gemeldet hatte. Nawalny hatte sich in Berlin und Süddeutschland vom Giftanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok erholt.

Die Entscheidung – es ist kein Urteil – nimmt der Moskauer verkniffen lächelnd entgegen und malt auf das Glas des sogenannten Aquariums, dem Glaskasten für Angeklagte in russischen Gerichten, Herzchen für seine Frau Julia im Saal. Seine Anwälte wollen in Berufung gehen, seine Anhänger noch am Abend auf die Straße, wo die OMON-Spezialpolizisten sich bereits formiert haben. „Die russische Justiz ist tot“, schreibt das Nawalny-Team. Die Opposition ist geschockt.

Das Gerichtsgebäude ist bereits am frühen Morgen umstellt. Die anliegenden Straßen sind mit Metallgittern abgesperrt, selbst in den Höfen der Hochhäuser sind Po­li­zis­t*in­nen postiert. Mehrere Gefangenentransporter stehen auf den städtischen Parkplätzen. Schneeräumlaster und Abschleppwagen verstellen die Zugänge in Richtung Gericht. Die Sicherheitskräfte lassen lediglich Jour­na­lis­t*in­nen näher herantreten.

Ab in den Polizeitransporter

Eine Polizistin prüft Pässe und Pressekarten, eine Kamera an ihrer Uniform nimmt die Prozedur auf. Eine ältere Frau fleht geradezu: „Komme ich denn in den Laden dahinten?“ „Sie müssen dort lang“, sagt eine Polizistin. Die Frau schaut sie fragend an und zeigt in die entgegengesetzte Richtung. „Der Laden ist doch da um die Ecke.“

Ein Mitarbeiter des Gerichts ruft in ein Megafon: „Strafsache, Zivilprozess, Ordnungswidrigkeit – ist hier noch jemand, der eine Verhandlung hat? Hier antreten!“ Weiter hinten führen OMON-Polizisten Nawalny-Unterstützer*innen in die Gefangenentransporter. Auch an mehreren Metrostationen nehmen Polizisten wahllos Menschen mit. Die Nichtregierungsorganisation OWD-Info meldet knapp 300 Festgenommene. Auch viele Jour­na­lis­t*in­nen kommen in Gewahrsam.

Alexei Nawalny sitzt derweil im Aquarium und sagt zu seiner Frau Julia im Saal: „Sie haben dich im Fernsehen in meiner Zelle gezeigt, haben gesagt, du hättest mehrfach die öffentliche Ordnung gestört. Böses Mädchen! Ich bin stolz auf dich.“ Es ist Nawalnys Umgang mit den Absurditäten in diesem Prozess, der hochpolitisch ist – und einem, bei dem der Staat keine Schwäche zeigen will, egal, wie hysterisch er agiert.

Die Entscheidung vom Dienstag geht auf Dezember 2014 zurück. Nawalny war da mit seinem Bruder Oleg wegen Betrugs des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher verurteilt worden: Alexei zu 3,5 Jahren auf Bewährung, Oleg musste für ebenso lange in die Strafkolonie. Bereits damals sagten Vertreter von Yves Rocher, ihnen sei kein Schaden entstanden, das betont der Konzern auch jetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nannte das russische Urteil 2017 „willkürlich“, Nawalny bekam eine Kompensation, blieb aber vorbestraft.

Nicht am Wohnort

Nun holt die russische Strafvollzugsbehörde den Fall erneut hervor und behauptet, Nawalny habe gegen Bewährungsauflagen verstoßen. Sieben Mal soll er sich nicht bei der Behörde gemeldet haben. Nach der Vergiftung Nawalnys im August 2020 mit dem international verbotenen Nervenkampfstoff Nowitschok in Sibirien war Nawalny in der Berliner Charité behandelt worden und befand sich nach seiner Entlassung Ende September in ambulanter Behandlung in Deutschland. FSIN stellt sich auf den Standpunkt, Nawalny hätte zwei Mal im Monat persönlich bei der Behörde vorsprechen sollen.

An seinem Wohnort sei er nicht vorgefunden worden, erklärt der FSIN-Mitarbeiter Alexander Jarmolin vor Gericht. „Aber ich war im Krankenhaus! Wissen Sie, was ein Koma ist? Was eine Reha ist? Selbst der Präsident unseres Landes sagte, nur dank ihm sei ich zur Genesung nach Deutschland ausgeflogen worden. Und Ihre Behörde will nicht gewusst haben, wo ich mich aufhalte? Achten Sie den Präsidenten?“, sagt Nawalny laut.

Sein Anwalt Wadim Kobsew fährt fort: „Kannten Sie seinen tatsächlichen Aufenthaltsort?“ – „Nein“, sagt der FSIN-Mitarbeiter. „Haben Sie eine Benachrichtigung erhalten?“ – „Ja.“ „War seine Adresse dort aufgeführt?“ – „Ja.“ Jegliche Befragung verläuft in ähnlich absurder Weise.

Auch EU-Diplomat*innen beobachten den Prozess. Die Sprecherin der russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, wettert: „Das ist nicht nur eine Einmischung in innere Angelegenheiten, es ist die Selbstentblößung der illegalen Rolle des kollektiven Westens beim Versuch, Russland einzudämmen, ein Versuch, Druck aufs Gericht auszuüben.“ Es ist Russlands typische Haltung, im Kampf zu sein. Und dabei um sich zu schlagen, ohne Hemmungen.

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10 Kommentare

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  • 1G
    13566 (Profil gelöscht)

    Putin schießt sich langsam richtig ins "Aus".



    Einst hatte er so ein gutes Gespürr für Freund und Feind. Scheint ihm verloren gegangen zu sein im Alter.



    AfD und die Links- Partei sollten sich langsam nach einem neuen gemeinsamen Freund im Ausland umschauen. Wie wäre es mit Kim?

  • Nawalny hätte das verhindern können, wenn er sich in Berlin bei russischen Behörden gemeldet hätte. Hat er aber nicht. Stattdessen fuhr er durch Deutschland und drehte einen Anti-Putin-Film (der inzwischen als unhaltbar und primitive Fotokollage zu werten ist).

    • @Kappert Joachim:

      Wo ist Ihr Problem??? Nawalny durfte das, was er getan hat, denn schließlich wurde er in letzter Instanz vom Euröpäischen Menschengerichtshof frei gesprochen. Die Diktatur des Wladimir Nowitschok Putin ignoriert dieses Urteil und geht weiterhin rechtsstaatswidrig gegen ihn vor. Nawalny hat nichts falsch gemacht und gegen keine Bewährungsauflagen verstoßen, weil dies rechtsstaatswidrig und daher unwirksam sind.

  • Das Interessanteste am der gestrigen Verhandlung ist nicht ihr Ausgang, der vorhersehbar war, sondern die Tatsache, dass die dafür vorgesehene Richterin in letzter Sekunde ersetzt (und mittlerweile entlassen) wurde, und dass der Vorsitzende des betreffenden Gerichts gestern seine Kündigung eingereicht hat. Die Richter, auch die willfährigen und handverlesenen, die die politischen Fälle auf den Tisch kriegen, sind ja nicht blöd und wissen genau, dass sie Staftaten begehen, wenn sie solche Urteile fällen. In dem kafkaesken jurischten Theater seit Nawalnys Rückkehr haben also (bislang) drei Richter ein Ticket fürs Gefängnis gebucht, und zwei haben sich für die Selbstrettung (oder auch ihr Gewissen) entschieden.

  • Nawalny hat gegen Bewährungsauflagen verstoßen, so wie Assange. Dass der Prozess eine erhebliche politische Dimension hat, steht ausser Frage, wie bei Assange. Dass gegen Bewährungsauflagen verstoßen wurde ist jedoch Fakt. Nawalnys rege Reisetätigkeit nach der Entlassung aus der Charité ist ebenfalls erwiesen und das Ergebnis seiner Arbeit in den Blackforrest-Studios (während der angeblichen Reha) ist über 100.000.000 Millionen Mal angeklickt worden.

    • @Sandor Krasna:

      "Dass gegen Bewährungsauflagen verstoßen wurde ist jedoch Fakt."

      Wenn man etwas behauptet, sollte man es begründen. "Das ist Fakt" ist keine Begründung. Das ist in diesem Fall sogar 100% falsch.

      Im vorliegenden Fall (Prozess "Yves-Rocher") ist im Jahre 2017 der Russische Staat in letzter Instanz (EGMR) Herrn Navalny unterlegen, woraus nicht nur die Unwirksamkeit des ursprünglichen Urteils (von 2014) erfolgt, sondern auch der sonstigen rechtlichen Folgen, hier: Bewährungsauflagen. Mit der Aufrechterhaltung der Bewährungsauflagen, einfach "weil wir es können", hat der Russische Staat einen Rechtsbruch begangen, er hat nämlich die verbindliche Entscheidung des EGMR unvollständig umgesetzt.

      Deshalb gab es in Scheremetwo niemanden zu verhaften, und auf der Polizeistation von Chimki, und am 2. Februar im Moskauer Stadtgericht nichts zu verhandeln. Es gibt, juristisch betrachtet, keinen Verhandlungsgegenstand.

      Man sollte die "Bewährungsauflagen" als das benennen, was sie ab der EGMR-Entscheidung 2017 waren: Eine rechtswidrige Repressionsmaßnahme des Russischen Staates, welcher sich Herr Navalny gewungenermaßen Jahre lang gefügt hat.

  • Und ein paar andere Staaten in Osteuropa sind bemueht, das Model zu kopieren und die Gewaltenteilung aufzuheben.

  • "Es ist Russlands typische Haltung, im Kampf zu sein. Und dabei um sich zu schlagen, ohne Hemmungen."



    Kann man ein ganzes Land in Psychotherapie stecken? Wegen Realitätsverlust, Wahnvorstellungen, Egomanie... und Gefahr für sich und andere?



    Der einzige, der hier den Krieg erklärt, ist der russische Staatsapparat mit Putin an seiner Spitze.

    • @Mainzerin:

      Nawalny hatte mind. 3 Monate Zeit sich offiziell zu melden. Zb dann als er sein Fake News Video schneiden musste.



      Die wichtigen Prozesse kommen noch:

      Unterschlagung von Spenden 5 Mio

      Landesverrat und Spionage für den MI6, dass Video kann auf rt-com besichtigt werden inklusive Ton.

      • 1G
        13566 (Profil gelöscht)
        @Zulu:

        Jemand der RT als Referenz angibt, hätte wahrscheinlich auch vor 80 Jahren den "Völkischen Beobachter" als solche genutzt.