Politische Gefangene in Russland: Im Haftlager für „Politische“
Moskaus Polizeiwachen sind nach den Nawalny-Protesten überfüllt. Festgenommene werden in ein zum Gefängnis umfunktioniertes Gebäude auf dem Land gebracht.
Sacharowo taz | Die Schnürsenkel hat er irgendwo hinter schweren Türen gelassen. Boris hat in den vergangenen Tagen viele schwere Türen aufgehen sehen und zuklappen hören. Er hat ohnehin vieles erfahren, „was ich mir nie ausgemalt hätte“, wie der 33-Jährige sagt, hier auf einem Parkplatz voller verschneiter Autos, hinter sich den Stacheldraht und seine „beschissene Zeit“ im Block A einer Spezialhaftanstalt für fast 1.000 Festgenommene nach den Protesten für die Freilassung des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny.
Er atmet die frostige Luft ein, atmet aus, seine Brille beschlägt ein wenig. Freiheit. „Fühlt sich unwirklich an.“ Boris umarmt seine Freundin Galina, umarmt seinen Kumpel Sergei, geht ein paar Schritte. Der Schnee knirscht unter seinen Schuhen, in denen Mullstreifen als Schnürsenkel-Ersatz stecken.
Zehn Tage war der Programmierer in Haft, weil er an einem Januarnachmittag in Moskau auf die Straße ging – „für die Idee eines freien und offenen Russland“. Wie so viele andere im ganzen Land, die nach der Verhaftung Nawalnys dem Staat zeigen wollten: So geht es nicht.
Der Staat ließ die Protestierenden auf seine Weise wissen, dass er keinen solchen Unmut duldet. Er schlug zu, wahllos, brutal. Boris fand sich an einer Mauer in einem Moskauer Hinterhof wieder, neben sich andere junge Männer, hinter sich Omon-Sonderpolizisten. Er spürte Stromschläge eines Elektroschockers, schleppte sich schließlich in einen Gefangenentransporter. Stunden verbrachte er auf einer Polizeiwache, nur Minuten vor einem Richter, sechs Tage in einer Arrestzelle im Südosten Moskaus. Bis er hierher kam, nach Sacharowo. „Ein politisches KZ“, wie manche russische Medien schreiben.
Nachts kommt der Gefangenentransport
Sacharowo ist ein Dorf wie so viele andere in Russland. Holzhäuser und Datschen-Villen schmiegen sich an die Trasse gen Südwesten, knapp 60 Kilometer und eineinhalb Autofahrstunden von Moskau entfernt. 70 Menschen sollen in dem Ort wohnen, gezählt wurden sie seit zehn Jahren nicht mehr.
2015 eröffnete am Dorfrand das sogenannte Multifunktionszentrum für Migranten. Hier, im modernen Zweigeschosser, bekommen Ausländer*innen ihre Arbeitsgenehmigungen, können ihre Aufenthaltserlaubnis oder die russische Staatsbürgerschaft beantragen. Weiter im Wald ragt ein Wachturm in die Luft. Stacheldraht umgibt die gelben Gebäude. „Abschiebehaft für Migranten“, steht auf einem roten Schild. „ZWSIG“ nennen es die Behörden. Russische Bürger*innen haben nur Zutritt zum Gelände, um auf das Ende eines Verfahrens zum Entzug ihrer Staatsbürgerschaft zu warten. Eigentlich.
Doch dann werden da eines Nachts plötzlich 80 Frauen und Männer herangekarrt, zusammengepfercht in Gefangenentransportern. In der kommenden Nacht sind es nochmals 150, am Tag darauf wieder 150 und später weitere 400. Eine Anstalt, in der sonst rund 100 Menschen, Zentralasiaten meist, monatelang auf ihre Abschiebung warten, wird zu einem Spezialgefängnis für mehr als 800 Protestierende.
Die Polizeiwachen in ganz Moskau sind längst überfüllt. Allein am Protestabend nach der Gerichtsverhandlung gegen Nawalny am 2. Februar haben Sonderpolizisten in der russischen Hauptstadt mehr als 1.000 Demonstrant*innen festgehalten. Die Festgenommenen von den zwei Protestwochenenden zuvor waren da noch nicht wieder in Freiheit.
Wohin mit den vielen „Politischen“? So nennen Polizisten wie Hilfsorganisationen die meist jungen Menschen, die sich gegen die staatliche Willkür einsetzen, für den russischen Staat aber „Marionetten des Westens“ sind. Die Begriffe wecken Erinnerungen an die Gulag-Zeit unter Stalin.
Gerade in den ersten Tagen nach den Massenfestnahmen, so berichten es Menschenrechtsaktivisten, die die Anstalten in den vergangenen Tagen mehrfach besucht haben, seien die grundlegenden Rechte der Menschen missachtet worden. Die Gefangenenbusse stehen stundenlang vor den Revieren, draußen sind es minus 20 Grad, manchmal müssen die Festgenommenen selbst ihren Gefangenentransporter anschieben, weil der Motor nicht mehr anspringt.
Kein Wasser, kein Essen, keine Anrufe
In den Haftanstalten gibt es kein Wasser, kein Essen, Berufungsbescheide gehen verloren, man lässt die Frauen und Männer nicht telefonieren, tagelang wissen ihre Familien nicht, wo sie sind. Anwält*innen haben kaum Zugang zu ihren Klient*innen. In so manchen 8-Mann-Zellen sitzen 27 Männer ein, auf den Metallpritschen gibt es keine Matratzen, die Stehtoiletten sind verstopft. Manchmal drehen die Aufseher die Heizung tagsüber auf 30 Grad auf, nachts ist sie ganz aus, es wird eiskalt.
Alle stehen unter Stress, kaum einer der Gefangenen war jemals zuvor eingesperrt. Sie rebellieren, sie rotten sich zusammen, schreien bei den kurzen Spaziergängen im Metallkäfig gemeinsam „Putin ist ein Dieb“, nehmen sich mit geschmuggelten Smartphones auf, stellen die Bilder ihrer Zellen ins Internet. Die Behörden reagieren mit harschen Durchsuchungen. Gerade Sacharowo wird zum Inbegriff der menschenverachtenden Haltung des Staates seinen Bürger*innen gegenüber.
„Angst haben ist sinnlos, wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen“
Der „Vertikale der Macht“ setzen Freiwillige „horizontale Strukturen“ entgegen. Sie organisieren sich in Chats, suchen darin nach den Gefangenen, sie bringen Tee, Wurst, Servietten, Suppen, Zahnputzzeug, Shampoos und tonnenweise Wasser vor die Anstalten. Sie verhandeln bis spät in die Nacht mit den Frauen und Männern am Durchgang, dass sie doch bitte die gebrachten Päckchen an die Gefangenen weitergeben sollen, sie kochen Suppe für die wartenden Verwandten in der Kälte, sie holen Entlassene ab und bringen sie nach Hause.
„Wir lösen am laufenden Band irgendwelche Probleme“, sagt Jewgeni Resnizki von der Freiwilligenorganisation „Peredatschi“ (Päckchen). „Als Gefangener ist man verloren. Der Staat kann nur zuschnappen, da weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut, die Verantwortung wird immer weitergereicht, und der einzelne Mensch ist sich selbst überlassen, nicht nur in Haft.“ Seit zehn Jahren engagiert sich der bald 36-Jährige politisch, arbeitete im Moskauer „Stab Nawalny“ mit, ging auch selbst auf die Straße. „Zum Glück, ohne festgenommen zu werden.“
Repressionen nehmen zu
Nun ist seine Hilfe vor dem Rechner gefragt. Bis zu 18 Stunden am Tag koordiniert er etwa 8.000 Freiwillige in der Stadt, die Essen für die Gefangenen vorbeibringen und Wache vor den Anstalten halten, wenn einer entlassen wird. „Angst haben ist sinnlos, wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen, gerade weil der Staat sich immer mehr in eine Falle manövriert und den Menschen kein Angebot macht“, sagt der Marketing-Experte.
In Sacharowo ist die Schlange für die Essenabgabe nach Tagen kleiner geworden. „Endlich“, sagen die Menschen hier. Juri hat Äpfel, Wasser, Instant-Nudeln, Nüsse und Kekse in einen durchsichtigen Beutel gepackt, will sie seinem Kumpel Roman vorbeibringen. Wie es auch Roman für ihn getan habe, als er, Juri, 2017 für zehn Tage in Haft kam. „Wir sind völlig auswechselbar. Heute schnappen sie mich, morgen einen anderen.“
Die Wut der Menschen wächst, die Repressionen des Staates werden derweil stärker. Die Behörden drohen den Gefangenen mit Strafverfahren, sie setzen Nawalny-Vertraute unter Hausarrest oder auf die Fahndungsliste. Sie erniedrigen Aktivist*innen und Journalist*innen. Im ganzen Land rücken Bezirkspolizisten systematisch zu Protestteilnehmer*innen aus. Mittels Gesichtserkennung machen sie sie ausfindig. Auch der Arrest schüchtert ein.
„Ich habe nun zehn Tage gesessen. Zehn Tage meines Lebens – und nichts dadurch erreicht“, sagt Boris vor der Haftanstalt in Sacharowo. „Wir müssen den Protest wohl anders denken. Sich verprügeln und festnehmen zu lassen, bringt uns nicht weiter.“