Junge Menschen in der Politik: Die Ausnahmepolitiker*innen

In der klassischen Politik eine Minderheit, aber keineswegs unpolitisch: Eine Abgeordnete, ein Ex-Bürgermeister und eine Aktivistin U30 berichten.

Porträt der Umweltaktivistin Carla Reemtsma, 21 Jahre

Sonntagsreden und Machtspielchen: So sieht Umweltaktivistin Carla Reemstma Parteien Foto: Karsten Thielker

Auf den ersten Blick ist der Bundestag ein Hort der Jugend. Schaut man sich etwa im Paul-Löbe-Haus um, dem kafkaesken Riesenbau gegenüber dem Reichstag, sieht man pausenlos Schülergruppen durch die ellenlangen Gänge schreiten. Auch die Besuchertribüne im Plenarsaal ist an Sitzungstagen voll von jungen Menschen. Das Parlament – ein Tummelplatz der U30-Generation?

In Bezug auf Besucher und Zuschauer: ja. Doch dort, wo Politik gemacht wird, ist das mitnichten der Fall. Die meisten Abgeordneten sind dem Rentenalter näher als der Schulzeit. So waren zu Beginn der laufenden Wahlperiode nur 12 der 709 Abgeordneten unter 30 Jahre alt. Der Altersschnitt betrug 49,4 Jahre – zum Vergleich: Die deutsche Gesamtbevölkerung ist mit rund 44 Jahren weit jünger.

Warum das so ist, hat verschiedene Gründe. Einer lautet, dass viele Junge durch Job, Familie und Hobbys so beschäftigt sind, dass ein längerfristiges politisches Engagement wenig attraktiv erscheint. Die abnehmende Parteibindung ist ein weiterer.

Doch was ist mit denen, die sich tatsächlich einbringen? Wie und warum engagieren sich junge Menschen politisch? Auf welche Widerstände auch und vor allem durch Ältere treffen sie?

Mit 29 ganz oben

Erste Station, um diese Fragen zu beantworten, ist der Bundestag. Schließlich geht es hierzulande, von Kanzleramt und Ministerposten mal abgesehen, politisch kaum höher. In ihrem lichtdurchfluteten Abgeordnetenbüro empfängt Gyde Jensen.

Die heute 29-Jährige, weißes T-Shirt, weiße Sneaker, ist an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste aufgewachsen und sitzt seit 2017 für die FDP im Bundestag – als jüngste weibliche Abgeordnete. Sie hat es als junger Mensch also nach ganz oben geschafft. Aber wie? „Mit viel Zutrauen in mich selbst“, sagt sie.

Gyde Jensen, FDP-Abgeordnete

„Wenn junge Menschen nicht Idealen folgten, wäre das fatal“

Sie erzählt von einem Erlebnis, das sie neulich mit einem älteren CDU-Kollegen hatte. Abends, vor Feierabend, hätten die beiden den gleichen Weg gehabt. „Ich erzählte ihm, dass ich noch an einer Rede schreiben muss.“ Worauf ihr Gegenüber entgegnete: „Ach, macht das der Chef nicht selbst?“

Sie nimmt solche Momente mit Humor. „Ich sehe das entspannt.“ Unangenehm sei es wohl eher für den Kollegen gewesen. „Der hat das erst gar nicht realisiert“, meint sie. Solange Junge im Bundestag in der Minderheit seien, passiere so etwas, glaubt sie. Dass sie zudem nicht in Hosenanzug oder Kostüm rumläuft, irritiere manche ebenfalls. „Diese Spießigkeit ist nicht meins.“

Notfalls schwingt sie die Glocke

Jensen, die unter anderem Internationale Politik und Anglistik studiert hat, ist zugleich Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag. Gewalt gegen Homosexuelle, Genitalverstümmelung von Frauen in Afrika – es sind Themen, die auch viele andere junge Menschen ihrer Meinung nach beschäftigen. Ob sie idealistisch ist? Unbedingt. „Wenn junge Menschen nicht Idealen folgten, wäre das fatal.“

Im Ausschuss muss sie auch Führung zeigen. Hier sitzen ihr vor allem ältere Männer gegenüber. Anfangs sei das schon komisch gewesen, doch inzwischen gebe es keine Probleme. Und wenn ihr im Ausschuss doch mal jemand ins Wort fällt? „Dann habe ich meine große Glocke“, sagt Jensen und muss schmunzeln. Sie meint die Glocke, mit der sie als Ausschussvorsitzende im Notfall zur Ruhe bimmeln kann.

Porträt von Gyde Jensen, 29 Jahre alt und FDP-Abgeordnete im Bundestag

Weiß sich Respekt zu verschaffen: Gyde Jensen, FDP Foto: Christian Mang

Nicht nur der Bundestag, auch sonst hat die klassische Politik ein Nachwuchsproblem. Unter Parteimitgliedern finden sich viele Grauhaarige.

So lag das Durchschnitts­alter der Mitglieder von SPD und CDU Ende 2017 bei 60. Die Grünen sind da mit 50 fast Jungspunde. Die Lokalpolitik ist ebenfalls eher von der Generation 40 plus dominiert.

Kurztrip in den Burnout

Eine Ausnahme hiervon konnte man vor einigen Jahren ganz im Osten des Landes besichtigen. Im brandenburgischen Forst, einer Kleinstadt direkt an der polnischen Grenze, wurde Philipp Wesemann mit 25 Jahren zum Bürgermeister gewählt – bei seinem Amtsantritt im Frühjahr 2015 war er der jüngste hauptamtliche Rathauschef Deutschlands.

Allerdings sollte der Ausflug des jungen Sozialdemokraten in die Lokalpolitik nur ein Kurztrip werden. Denn nach knapp zwei Jahren trat er zurück. Burn-out.

Heute, anderthalb Jahre nach seinem Rücktritt, sitzt er in einem Café unweit der Berliner Friedrichstraße. Der heute 29-Jährige trägt Hemd, dunkelblondes Haar, Dreitagebart. Vor ihm steht eine große Tasse Kaffee. Er wirkt mit sich im Reinen. Vom einstigen Druck ist nichts mehr zu spüren.

Dieser kam damals von allen Seiten: von der eigenen Verwaltung, dem Stadtparlament, der Bevölkerung. „In den ersten Monaten hatte ich kein freies Wochenende“, sagt er. Manche Wochen habe er 80 Stunden ge­arbeitet. Auftritte bei der Feuerwehr, der Landesrammlerschau. Und dann die Büroarbeit. „Ich war nur noch am Rotieren“, sagt er.

Fehler vermeiden helfen

Irgendwann hielt er es auch gesundheitlich nicht mehr aus. Am Ende schleppte ihn sein Freund zum Arzt, der ihn krankschrieb.

Porträt des Ex-Bürgermeisters Philipp Wesemann, 29 Jahre alt

Philipp Wesemann, SPD, hatte das Amt des Bürgermeisters unterschätzt Foto: Karsten Thielker

Hat er die Aufgabe unterschätzt? Ganz sicher, sagt Wesemann. „Ich hätte viel mehr kommunizieren müssen.“ Mit den anderen Fraktionen, mit den eigenen Mitarbeitern. Er erzählt, wie er einmal versäumte, den Mit­arbeitern in seiner Verwaltung, vorwiegend Frauen, zum Internationalen Frauentag eine Glückwunschmail zu schicken. Dabei hatte ihm niemand gesagt, dass das Usus war. Vom Personalrat bekam er trotzdem eine Rüge.

Dabei war es noch nicht einmal so, dass er mit allzu progressiven Themen angetreten wäre. „Ich hatte eine sehr realistische Sicht auf alles“, sagt Wesemann. Von einzelnen Projekten wie der Gründung eines Jugendbeirats abgesehen, ging es vor allem um klassische Kommunalthemen: Mittelstand stärken, Stadtentwicklung fördern, etc. „Damit hätte auch jemand mit Mitte vierzig antreten können“, sagt er.

Sein politisches Interesse hat Wesemann durch seine ernüchternde Erfahrung nicht verloren. Noch immer engagiert er sich für die SPD auf Lokalebene. Zugleich berät der gelernte Biologielaborant zurzeit Kandidaten für die Landtagswahl im Spätsommer. „Ich will nicht, dass andere die gleichen Fehler machen wie ich“, sagt er.

Kein Bock auf verkrustete Strukturen

Dass Menschen wie Wesemann in der klassischen Politik eine Rarität sind, lädt zu Missverständnissen ein. Denn es ist mitnichten so, dass die Jugend politisch uninteressiert wäre. Im Gegenteil: Die „Fridays for Future“-­Demos für mehr Klimaschutz offenbaren dies.

Auch die jüngste Shell-Jugendstudie kam zu dem Ergebnis, dass das politische Interesse unter den Jungen in letzter Zeit eher zugenommen hat. Nur: Statt in Parteien bringen sich Junge lieber projektbezogen ein.

„Die eher verkrusteten Strukturen in Parteien schrecken viele junge Menschen ab“, sagt Thorsten Faas, Politikwissenschaftler an der FU Berlin. Viele hätten kein Interesse, sich langfristig zu binden – eine Entwicklung, mit der auch Sportvereine und Kirchen zu kämpfen haben.

Für die Jungen gilt daher: Lieber eine Petition unterzeichnen oder zur Demo gehen, als sich im Kleinklein der Parteien zu verlieren.

Nicht ernst genommen

Sich für ein Thema richtig reinhängen, das tut auch Carla Reemtsma. Die 21-Jährige studiert in Münster Politik und Wirtschaft, ihren Hauptjob sieht sie aktuell aber eher als Klimaaktivistin. In der westfälischen Stadt ist sie Organisatorin der „Fridays for Future“-Bewegung. Jeden Freitag geht sie dort mit vielen anderen Schülern und Kommilitonen auf die Straße, um für konsequenteren Klimaschutz zu demonstrieren.

Gerade ist die Studentin bei ihren Eltern in Berlin zu Besuch, weshalb sie nun in einem Café in der Stadt sitzt. Reemtsma, blonde Haare, rot-blauer Strickpulli, hat sich schon in ihrer Schulzeit als Klassen-und Schülersprecherin eingebracht. „Ich habe schon als Kind alles hinterfragt“, erzählt sie.

Als sie vor drei Jahren ihr Studium begann, knüpfte sie daran an – zum Beispiel als Jugendbotschafterin der Lobbyorganisation ONE, die sich für Armutsbekämpfung in Afrika einsetzt. Reemtsma glaubt, dass Ungerechtigkeit viele ihres Alters umtreibt. „Wir leben in so einem privilegierten Land und es gibt so viele strukturelle Ungleichheiten.“ Sie tritt auch für Antirassismus und Feminismus ein.

In der Anfangszeit der Klimademos fühlte sich Reemtsma nicht ernst genommen. „Erst hieß es: Alles Schulschwänzer. Dann: Alles Utopisch“, sagt sie. Dabei hält sie die Forderungen, die ihre Bewegung stellt, überhaupt nicht für naiv. „Wir stellen doch gar keine utopischen Forderungen“, sagt sie.

Die Stunde der Jungen

Viele Politiker hätten einfach nicht verstanden, dass die Zeit dränge, meint sie. Dass das Thema Klimawandel nun bei der Europawahl derart entscheidend war, sieht sie klar als Verdienst ihrer Bewegung.

Ob sie sich auch ein Partei-­Engagement vorstellen kann? Schließlich, das sagt Politikwissenschaftler Thorsten Faas, sei es wohl als junger Mensch noch nie einfacher gewesen, in einer Partei zu reüssieren.

„Leute wie Juso-Chef Kevin Kühnert machen es vor“, sagt Faas. Für später will Carla Reemtsma das nicht ausschließen. Aber aktuell sei es für sie keine Option. „Ich habe das Gefühl, da geht es vor allem um Sonntagsreden und Machtspielchen“, sagt sie.

So gesehen dürfte es für die meisten jungen Menschen im Bundestag vorerst nur bei der Zuschauerrolle bleiben. Zumindest dann, wenn nicht gerade Freitag ist – und der Klimawandel auf die Straße ruft.

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