Jugendgewalt in Stuttgart: Mit Krawall ins Paradies
Wie in jedem x-beliebigen Dorf macht auch in Stuttgart die Jugend Rabatz. Das ist nicht schön, aber auch kein neues Phänomen.
Dieser Vorfall war dann, gemessen an den Aufregungen, die das ja eigentlich ehrpusselige und biedere Stuttgart neulich wieder zu verkraften hatte, nur noch kurios. Da sprach der abtrünnige AfD-Abgeordnete Heinrich Fiechtner im baden-württembergischen Landtag davon, alle, abgesehen von der AfD, fänden in der Königsstraße der Landeshauptstadt die Scherben ihrer Politik vor. Deutschland werde von Ausländern überrannt. Am Ende, nach all seinen Belfereien und seinem Gekläffe, wurde Fichtner von der Polizei aus dem Saal getragen, man hatte die Beleidigungen einfach satt.
Und das war sowieso richtig so, denn das politische Establishment musste ja grübeln: Was, zum Teufel, sollte das neulich in der wichtigsten Einkaufsachse Stuttgarts? Jugendliche und Jungerwachsene, die meisten Männer, einige Frauen waren auch dabei, hatten, nachdem einer der ihren von Polizisten drogenkontrolliert werden sollte, sich gewehrt. Daraus erwuchs schließlich ein übler Krawall, viele Scheiben der Geschäften waren zertrümmert worden, einige Polizisten verletzt, etliche der Krawalleur:innen festgenommen. Wäre es nur eine kleine Rangelei gewesen, hätte sich kein überregionales Medium interessiert, aber das Ding lief sogar über die „Tagesschau“, Horst Seehofer zeigte sich empört, Bundespräsident Frank Walter Steinmeier fand auch gewogene Worte für die Polizeien, die doch Respekt verdient hätten.
Das Zauberwort des Ereignisses war indes: „Partyszene“. Manche sagten: „Eventszene“. Hilfsvokabeln ohne Sinn und Verstand, denn tatsächlich passte der Krawall von Stuttgart in gar keines der üblichen Wahrnehmungsraster. Die Protagonist:innen: ein europäisches Gemisch aus neudeutschen Bürger:innen, die meisten mit deutschem Pass, alle mit gültigem Aufenthaltsstatus, man registrierte Teilnehmende mit lettischer Herkunft, solche aus Portugal oder Belgien. Was sie in aller Öffentlichkeit einte, war kein politischer Sinn, nix FFF, Schwabida oder sonst wie gelabelt, sondern die schiere Lust an jugendlicher und jungerwachsener Präsenz in der Mitte der Stadt: Hey, hier sind wir, ihr könnt uns mal!
Und genau dieses Phänomen, einfach zu sein, nicht nur Sein oder Absichtsvolles zu behaupten, Kontext zu stiften oder gar Alliierte zu ermitteln: Das ist historisch nicht neu, im Gegenteil, es ist das älteste Motiv öffentlicher Versammlung überhaupt. Partyszene? Das, was in Stuttgart vom Establishment beklagt wurde, sind Jugendkrawalle, Aufrühreien von Menschen, die keine Kinder mehr sind und an den Partys der Erwachsenen mit all ihren gesitteten Riten (noch) nicht teilnehmen dürfen. Schmuddelkinder zumeist, nicht gesellschaftsfähig, roh und gewalttätig, weil, nun ja, für Linke darf dies keinen Schreck auslösen, denn sie kennen dies ja, weil Gewalt (und ihre Androhung) auch Spaß bereit. Man darf das Wunsch nach Entgrenzung, nach Kampf und Risiko (um den Preis der Festnahme und Einsperrung, weiß doch jedes Kind) nennen – aber das gibt es überall auf der Welt, und das schon immer.
Jugendrebellion im Film
Richtig prominent wurde das, was als „Jugendkrawall“ auch ertragreich gegoogelt werden kann, nach dem Zweiten Weltkrieg. Ökonomische Prosperität, vor allem in den kapitalistischen Ländern, machte es Jugendlichen möglich, sich selbst zu inszenieren: Als die noch nicht fertigen Erwachsenen, mit schönen Körpern, vollen Kräften und Säften, gleich ob Männer oder Frauen, wer wem imponieren wollte, ist nie ganz ausgemacht. Deutsche Filme wie „Die Halbstarken“ oder der Hollywoodklassiker „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ aus den Fünfzigern künden davon. Marlon Brando, James Dean, Horst Buchholz, Karin Baal – Jungerwachsene, die keinen Bock auf sozialpädagogische Einreden und verständnistriefende Zwangsgesten („Denk doch an dein Leben, mein Kind“) haben, sondern, nun ja, das ganze Paradies haben wollen, hier und jetzt, notfalls mit Krawall.
Aufstände gegen die Erhöhung von Bierpreisen im 16. Jahrhundert, Randale gegen die Vertreibung von den Marktplätzen der Welt, besonders in den Jahren nach dem Nationalsozialismus hierzulande, als Jugendlichkeit im selbstbestimmten Sinne so recht erst erfunden wurde, als individuell möglicher Freiheitsrahmen: Eltern? Können mich mal!
Aber das hat nie aufgehört und wird es nie. Riots in den französischen Vorstädten, in Hamburg bei Rock-’n’-Roll-Konzerten von Bill Haley, die Schwabinger Krawalle Anfang der Sixties, vor Paris oder anderswo, in Zürich, Tumulte im London der achtziger Jahre – Empörung nicht nach dem Schema Rassismus/Ausgrenzung/Diskriminierung, sondern mit der Lust am eigenen Irresein, an der Noch-nicht-Eingepasstheit der Erwachsenen mit der Ungewissheit an der eigenen Perspektive, die man aber, siehe aktuell Stuttgart, wenigstens für einen lauen Sommerabend vergisst.
Jedes Volksfest, jeder Rummel, Jahrmarkt, Dom oder jede Kirmes, kennt das: Jungerwachsene, die sich bar jeden Ziels herumtreiben, ihresgleichen suchen und finden und über das verhandeln, um was es dann wirklich geht: Liebe (?), Sex (???), Männlichkeit (fraglich, selbstbestätigungsbedürftig), Weiblichkeit (unsicher, suchend), das Leben (das tollste überhaupt, wenn auch nur unbewusst, und das schlimmste zugleich, weil offen und damit ungewiss), die Eltern (meist: doof und einengend, verbietend).
Jugendkrawalle – das gibt’s in jedem Dorf, in jeder Aushebelung des Legalen … Und das ist natürlich meist nicht harmlos, Jugendliche und Jungerwachsene sind ja nicht per se süß und knusprig, sondern auch böse und gemein. Treten die Schwächeren, machen sich über die lustig – und die Schwächeren versuchen, zu Stärkeren zu werden, und sei es körperlich.
Aber vor allem dies haben sie gemeinsam: Das gute Leben, das muss möglich sein, das will man auch, das liegt in weiter Ferne und bis dahin ist Party. Kleine Chancen auf etwas, das passiert, das geschieht, das sich ereignet – jugendlich und jungerwachsen zu sein ist ja auch der dauernde Kampf gegen Langeweile, gegen das Noch-nicht-wissen-was-einem-Freude-bereitet.
Insofern ist die Deutungsgier der etablierten Politiker:innen, ihr Fragen, was das denn heißt: „Partyszene“ – in Stuttgart wie anderswo: eher proletarischen Zuschnitts –, nur zu verständlich. Sie kennen junge Kader:innen, die gegen die Klimakrise kämpfen, voll Sinn sprechende junge Frauen, junge Männer mit Stipendium der Deutschen Studienstiftung, sie streiten für Gerechtigkeit im Sozialen oder, mehr als anrüchig natürlich, schließen sich neonaziartigen Gruppen an und fordern Bizarres, Deutschland den Deutschen etwa. Die aber waren ja in Stuttgart sehr präsent, als sie die Polizei nicht als letztes Wort nahmen, sondern ihre Worte anzufügen beanspruchten, Deutsche, die nicht wie Gretel und Hänsel aussehen, sondern wie Deutsche von heute eben. Sie sind also nicht erreichbar durch linke, ökologisch-inspirierte oder rechte Deutungsmuster, sie wollen nur einfach dies: ein Leben, das sich aus dem Jetzt heraus lohnt, als gäbe es kein Morgen. Sie wollen cool sein, trinken, quatschen, ein paar Drogen nehmen, den Moment für alle Ewigkeit (fest-)haltend.
Dass das riskant sein kann, wissen die Inhaftierten, die doch alle so gern cool und unangreifbar wären, natürlich jetzt, das wusste alle „Rebellen ohne Grund“ (wie der Originaltitel von „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ lautet). Aber Abenteurertum ohne die Chance zum echten Absturz – das wäre keines. James Dean war so ein Rebell, der auf Altersvorsorge und der Hoffnung auf Weihnachtsgeld nichts gab. Im wahren Leben fuhr er mit seiner schnittigen Karre in den Tod – damit unsterblich werdend.
Es ist, mit anderen Worten, faszinierend: Das Leben sei Party!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands