Journalismus mit Behinderung: Eine Chance für Inklusion
Technischer Fortschritt in Coronazeiten kann mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderung bedeuten. Nur: Digital heißt nicht immer barrierefrei.
Oft steht in Stellenanzeigen für Lokaljournalist*innen: ein Führerschein ist wünschenswert. Dieser Satz suggeriert: Wir stellen uns eine Karla Kolumna vor, die von einem Ort zum nächsten eilt, immer auf der Jagd nach der nächsten Geschichte. Dieser Satz sagt auch aus: Menschen mit eingeschränkter Mobilität sind hier eher nicht vorstellbar. Einerseits weil sie in Redaktionen noch zu selten vorkommen, andererseits weil der spärliche öffentliche Personennahverkehr auf dem Land alles andere als barrierefrei ist und Führerscheinstunden mit umgebautem Fahrschulauto doppelt so viel kosten. Behinderte Menschen und der hypermobile Journalismus scheinen unversöhnlich zu sein.
Doch dann kam die Coronapandemie und plötzlich lief es auch weitgehend unmobil. Interviews wurden bei Skype geführt und trotz schlecht aufgelöster Webcams sogar im Fernsehen gezeigt. Dort, wo es sonst eigentlich um gestochen scharfe Bilder geht. Medienkonferenzen wurden online abgehalten, Reisen zu Interviews oder Pressekonferenzen wurden zu großen Teilen überflüssig.
Für viele körperlich behinderte Menschen ist der technische Sprung, den die Pandemie erzwungen hat, eine Chance auf Teilhabe. Keine Stufen vor dem Eingang, keine umständliche Anreise, weil auf der Strecke der Aufzug kaputt ist. Dolmetschende der Gebärdensprache können dank Onlineveranstaltungen am selben Tag in Hamburg und Zürich übersetzen.
Aber Vorsicht: Digital ist nicht gleich barrierefrei. Mobilität ist keineswegs die einzige Dimension von Behinderung. Für gehörlose oder blinde Menschen und Menschen mit Lernschwierigkeiten haben sich die Barrieren teilweise bloß verlagert.
Bei schlechter Verbindung aufgeschmissen
Zwar fällt für Gebärdensprachdolmetscher*innen die An- und Abreise weg, aber auch im digitalen Raum bleiben sie noch Mangelware. Für ihre Arbeit sind sie zudem auf eine schnelle Internetverbindung angewiesen, da Aussetzer bei Bild und Ton ein Dolmetschen massiv erschweren oder manchmal auch unmöglich machen. Natürlich sind alle bei schlechter Verbindung aufgeschmissen, jedoch können nicht alle Menschen in diesem Fall einfach ihre Webcams ausschalten, um Bandbreite zu sparen. Auch die Konzentration von hörbehinderten Menschen auf das Mundbild der Sprechenden ist bei schlechter Verbindung viel schwieriger.
Sehbehinderte und blinde Menschen, die vielleicht lieber an Videokonferenzen per Telefon teilnehmen, müssen die entsprechenden Bedienungsmöglichkeiten kennen. Zum Beispiel, dass sie bei Diensten wie Zoom oder Google Meet mit der Tastenkombination *6 ihr Mikrofon einschalten können, um an der Diskussion teilzunehmen.
Die Konferenzsysteme sind im vergangenen Jahr viel besser geworden, was natürlich auch daran liegt, dass die Nachfrage auf einmal deutlich höher war. Es gibt nun auch öfter die Möglichkeit, automatisch erstellte Untertitel dazuzuschalten. Ein erster Schritt, allerdings ist diese Funktion oft noch fehleranfällig.
Anderthalb Jahre sind es jetzt – und bis vor Kurzem, als die Inzidenzzahlen wieder stiegen, gab es allerhand Schlagzeilen wie „Das Leben in der neuen Normalität“, „Zurückkehren in die Normalität“. Für behinderte Menschen bedeutet die „neue Normalität“ nach der Pandemie allerdings nichts weiter als die alte Normalität: voller Privilegien für Nichtbehinderte und voller Barrieren für den Rest. Insgeheim hatte man gehofft, dass dieser gesellschaftliche „Neuanfang“ inklusiver gestaltet werden würde. Dafür ist es noch nicht zu spät. Wichtig wäre, dass geschaffene digitale Alternativen auch nach der Pandemie bestehen bleiben.
Wie verändert die Coronakrise Medien und Publikum? Welche Chancen ergeben sich für den Journalismus nach der Pandemie? Wir schauen zurück und nach vorne, für einen Monat jeden Mittwoch auf der Medienseite und unter taz.de/Medien.
Von zu Hause aus ins Theater, Kino oder eben arbeiten. Auch im Homeoffice hat sich eine Chance aufgetan für körperlich behinderte oder chronisch kranke Arbeitnehmer*innen. Der Wunsch, Homeoffice für sie möglich zu machen, ist viel älter als die Pandemie. Einerseits um sich die Kräfte einzuteilen, andererseits um sich Barrieren auf dem Weg zur Arbeit zu ersparen. Oder um überhaupt teilhaben zu können, wenn das denkmalgeschützte Redaktionsgebäude sonst einfach nicht betretbar war.
Eine große Gefahr beim Homeoffice ist allerdings das drohende „Parken“ von behinderten Menschen darin. Es ist einerseits eine gute Möglichkeit, behinderte Arbeitnehmer*innen anzustellen, wenn die Büroräume nicht barrierefrei sind. Auf der anderen Seite ist es für sie schwieriger, Anschluss an das in Präsenz arbeitende Team zu bekommen. Hier müssen gute und flexible Lösungen gefunden werden.
Denn in Medienhäusern ist es entscheidend, dass Redakteur*innen verschiedene Sichtweisen auf Geschichten haben und verschiedene Hintergründe mitbringen und sich dies in ihrer Themen- sowie Protagonist*innenwahl niederschlägt. Behinderte Menschen sind an dieser Stelle sowieso schon unterrepräsentiert. Vom Homeoffice aus Themen zu überblicken und auch zu intervenieren, wenn die Perspektive von Menschen mit Behinderung vergessen wurde, ist dann noch schwieriger.
Die Pandemie birgt eine Chance, den Journalismus inklusiver und barrierefreier zu machen. Dazu gehört auch, Menschen mit Lernschwierigkeiten zu befragen, auch wenn die Zugänge zu den Wohnstätten, in denen sie meist leben, schwieriger sind und es bequemer ist, die nichtbehinderten Pressesprecher*innen zu befragen. Dass diese Menschen noch viel zu selten in den Medien zu Wort kommen, konnte man bei der Berichterstattung über die Tötungen im Potsdamer Oberlinhaus und auch bei der aktuellen Flutkatastrophe beobachten.
Gerade im Wahljahr müssen wir Journalist*innen diese Sichtweisen wieder mehr in den Vordergrund rücken: Menschen mit Behinderung sind Wähler*innen, die auch das Recht haben, mit ihren Interessen vertreten und barrierefrei informiert zu werden. Sie sind ein Thema genauso wie die Besteuerung von Besserverdiener*innen oder Leistungen für Familien.
Barrierefreier Journalismus heißt: mehr Angebote in Leichter Sprache und Gebärdensprache, barrierefreie Webseiten für Screenreader-Nutzende, aber auch barrierefreie Angebote in den sozialen Medien. Inklusiver Journalismus bedeutet: mehr Journalist*innen mit Behinderung und anderen Vielfaltsmerkmalen in die Redaktionen holen, mehr Protagonist*innen abseits ihrer Behinderung zu den verschiedensten Themen befragen. Noch können wir die neue Normalität inklusiver gestalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel