Jobcenter wollen Geld von Bürgen: Teures Engagement für Geflüchtete
Flüchtlingsbürgen sollen die Sozialleistungen zurückzahlen, die die Geflüchteten von den Jobcentern bekommen haben. Dagegen wehren sich Betroffene jetzt vor Gericht.
Sozialämter und Jobcenter in Niedersachsen verschicken seit etwa einem Jahr Rechnungen an Bürgen, die sich 2014 und 2015 bereit erklärt hatten, die Lebenshaltungskosten für syrische Kriegsflüchtlinge zu übernehmen.
Die Flüchtlingspaten mussten nachweisen, dass sie Reisekosten und Unterhalt bezahlen können. Nur aufgrund solcher Bürgschaften konnten viele Syrer damals überhaupt nach Deutschland gelangen. Neben Einzelpersonen unterschrieben auch Kirchengemeinden und Vereine Verpflichtungserklärungen.
Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen – und damit auch die Bürgen in diesen Bundesländern – waren davon ausgegangen, dass die Bürgschaften nur auf wenige Monate befristet seien. Die finanzielle Unterstützung der Syrer durch die Bürgen würde also enden, sobald die Geflüchteten einen Schutzstatus und damit ein Recht auf Sozialleistungen erhielten. Wer keine Arbeit fände, würde vom zuständigen Jobcenter unterstützt.
Im August 2016 legte der Bund allerdings die Dauer einer Bürgschaft auf fünf Jahre gesetzlich fest. Rückwirkend für ältere Fälle wurde eine Frist von immerhin drei Jahren beschlossen – was bedeutet, dass die Jobcenter Sozialleistungen, die in einem Zeitraum von drei Jahren an Flüchtlinge ausgezahlt wurden, von den Bürgen zurückfordern können. Das Bundesverwaltungsgericht entschied im Januar 2017, dass Bürgen auch nach Anerkennung der Flüchtlinge für deren Lebenshaltung aufkommen müssen – und zwar so lange, bis die Geflüchteten Arbeit finden oder wieder ausreisen.
Auf Grundlage dieses Urteils verlangen die Behörden nun das Geld von den Bürgen zurück. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit haben 21 Jobcenter in Niedersachsen Forderungen in Höhe von insgesamt rund 3,3 Millionen Euro geltend gemacht. Es geht dabei um insgesamt 410 Fälle. Mit den Klagen wehren sich die Bürgen nun gegen die Kostenbescheide.
Allein am Verwaltungsgericht Braunschweig gibt es rund 190 solcher Klagen, wie ein Justizsprecher bestätigt. In Stade sind es 25. Teilweise sind die Kläger identisch, weil sie mehrere Verpflichtungserklärungen abgegeben haben. So soll etwa eine evangelische Kirchengemeinde in Wolfsburg, die zwischen August und Oktober 2014 für acht Geflüchtete unterschrieb, rund 100.000 Euro zahlen. In einem weiteren Fall in der Stadt soll ein Bürge sogar mehrere Hunderttausend Euro erstatten.
Die Landesregierung in Hannover mahnte unlängst eine politische Lösung in dem Streit an. Es gehe „um die Herausforderung, diejenigen Menschen nicht im Regen stehen zu lassen, die sich als Bürgen für syrische Flüchtlinge zur Verfügung stellten“, hatte Innenmninister Boris Pistorius (SPD) im Dezember erklärt.
Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) plädierte dafür, die Bürgschaften erlöschen zu lassen, sobald die davon begünstigten Flüchtlinge als Asylbewerber anerkannt worden seien. Dies solle für zwischen 2013 und Januar 2017 eingegangene Bürgschaften gelten.
Mittlerweile wurden Niedersachsen und Hessen von der Innenministerkonferenz beauftragt, mit dem Bundesarbeitsministerium eine Lösung für das Problem zu finden. In der Bundespolitik geht es allerdings um andere Fragen – bei den Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD spielte das Thema Bürgschaften keine Rolle.
Der evangelische Lüneburger Regionalbischof Dieter Rathing appellierte an die Landes- und Bundespolitik, diese Frage schnellstmöglich zu klären. Man müsse die Bürgen, „die in bester humanitärer Absicht gehandelt haben, entlasten“, sagte er. Rathing stellte sich ausdrücklich hinter Bürgen und Kläger: „Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers ist auf Seiten der Gemeindemitglieder in Wolfsburg und unterstützt sie in ihrer Forderung nach Erlass der Rückforderungen“, so der Bischof.
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) empörte sich darüber, dass genau diejenigen ökonomisch bestraft würden, die „besondere Menschlichkeit“ gezeigt hätten. „Es ist nicht hinnehmbar, wenn der Staat nun Helfern nachträglich untragbare Kosten aufbürdet, wenn einmal mehr entmutigt statt ermutigt wird“, sagte Roth. Die Grünen-Politikerin forderte Bund und Länder auf, einen „Hilfsfonds“ aufzulegen, um die Bürgen zu entlasten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen