Jens Spahn und RKI zur Coronalage: Warnung vor hartem Herbst
Jens Spahn mahnt, die Corona-Regeln einzuhalten. Und die Länder streiten über Beherbergungsverbote.
Zu Beginn drückte der Minister sein Unbehagen ob der momentanen Entwicklung aus: „Die Zahlen besorgen mich sehr.“ Er macht dafür vor allem eine zunehmende Unachtsamkeit jüngerer Menschen verantwortlich. „Zum Teil weil sie Party feiern wollen, zum Teil weil sie reisen wollen. Weil sie sich für unverletzlich halten.“ In dem Kontext kritisierte der CDU-Politiker auch den „teilweise ignoranten Umgang in der Hauptstadt“.
Dies gepaart mit der beginnenden kalten Jahreszeit nahm Spahn abermals zum Anlass, die Menschen dazu aufzurufen, die Abstands- und Maskenregeln einzuhalten. Eine „richtige Balance aus Zuversicht und Achtsamkeit“, sagte er, sei nötig, um die nächsten Monate der Coronapandemie zu bewältigen. Als wichtige Bausteine nannte dafür auch die Corona-App und regelmäßiges Lüften von geschlossenen Räumen. Auf jeden Einzelnen komme es an. „Diese Pandemie ist ein Charaktertest für uns als Gesellschaft“, sagte der Minister.
Ähnlich äußerte sich der RKI-Präsident: „Wir sind vergleichsweise gut durch den Sommer gekommen“, sagte Wieler, gerade „weil wir uns an die Maßnahmen gehalten haben“. Er drückte seine Sorge über den derzeitigen Trend in Zahlen aus: So habe die 7-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Coronafälle pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen, Anfang Juni noch bei drei gelegen, Anfang Oktober war sie schon auf über 20 gestiegen. Die Zahl von aktuell 470 Intensivpatienten deutschlandweit sei zwar weiter gering, doch habe auch dieser Wert sich in den vergangenen vier Wochen verdoppelt
Lüften eine „sehr effektive Präventivmaßnahme“
Wieler sagte, nur wenn die Infektionszahlen niedrig blieben, werde das Gesundheitssystem nicht überlastet – und sprach eine Warnung aus: Mehr als 10.000 neue Fälle pro Tag seien eine reale Möglichkeit, „es ist möglich, dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet.“ Um dies zu verhindern, sei das Beherzigen der AHA-Formel, also Abstand, Hygiene und Alltagsmasken, entscheidend. Zudem sollten die drei beziehungsweise vier „G“s vermieden werden: geschlossene Räume, Gruppen und Gedränge, Gespräche in enger Atmosphäre.
Hierzu meldete sich auch Martin Kriegel von der TU Berlin zu Wort, sozusagen Fachmann für Raumluft und Aerosole. „Lüften ist eine sehr effektive Präventivmaßnahme“, sagte er. Folglich sollte man sich in schlecht gelüfteten Räumen möglichst nur kurz aufhalten. Halbiere sich die Aufenthaltsdauer, halbiert sich auch das Infektionsrisiko, betonte Kriegel.
Ebenfalls bei der Pressekonferenz dabei: Die Infektiologin Susanne Herold von der Uniklinik Gießen. Sie lieferte am Donnerstag ein medizinisches Update. Die Zahl der Patienten in den Kliniken steige, sagte sie, „wir bereiten uns auf eine neue Welle vor“. So könnten auch Operationen mit anderen Erkrankungen coronabedingt bald wieder verschoben werden. Doch auch einige Lichtblicke hatte Herold parat, so gebe es inzwischen einige Medikamente, die einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf eindämmen könnten – darunter das ursprünglich gegen Ebola eingesetzte Remdesivir.
Streit um Alleingänge beim Beherbergungsverbot
Für die Kassenärztliche Bundesvereinigung sprach deren Chef Andreas Gassen. Er machte deutlich, dass Deutschland momentan von einer Überlastung des Gesundheitssystems „weit entfernt“ sei. Auch die Arztpraxen seien „auf die Lage eingerichtet“, betonte er. Angesichts von 8.500 freier Intensivbetten müsse man „nicht in Angst verfallen“. Dennoch sei die Bewältigung der Pandemie kein Selbstläufer: „Wir müssen uns rücksichtsvoll verhalten“
Droht sonst ein neuerlicher Lockdown? Der Gesundheitsminister bezweifelt dies. „Wir werden zu so einer Situation wie in März/April nicht zurückkommen“, sagte Spahn. Zu sehr hätte die Bevölkerung in der Pandemie dazugelernt. „Wir haben keine Ausbrüche beim Einkaufen, keine Ausbrüche beim Friseur, kaum Ausbrüche im öffentlichen Nahverkehr“ – also überall dort, wo die Maßnahmen eingehalten würden, sagte er. „Auch in Kindergärten und Schulen verläuft es vergleichsweise gut“. Umso wichtiger seien laut Spahn punktuelle Beschränkungen, etwa wenn es um Privatfeiern gehe, oder Alkoholverbote, wie sie etwa der Berliner Senat jüngst verhängt hatte.
In der aktuellen Debatte um Beherbergungsverbote für Menschen aus inländischen Risikogebieten äußerte der Minister zwar Verständnis für die Alleingänge einzelner Bundesländer, er betonte aber, dass es hier einheitliche Regeln geben sollte. „Der Rahmen muss gleich sein, gerade beim Reisen“, sagte Spahn. Andernfalls koste dies Akzeptanz in der Bevölkerung.
Landespolitiker sehen das mitunter anders. Thüringens Linker Ministerpräsident Bodo Ramelow will sich einem bundesweiten Beherbergungsverbot von Menschen aus Risikogebieten jedenfalls nicht anschließen. Das sei Unsinn, erklärte er im ZDF. Dabei hat er die Rückendeckung der Thüringer Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow, die auch für den Bundesvorsitz kandidiert. „Man kann nicht ein ganzes Bundesland dafür in Haftung nehmen, das an lokal begrenzten Hotspots die Infektionszahlen ansteigen“, sagte Hennig-Wellsow der taz. Über konkrete Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie an solchen Hotspots müssten daher am besten die Gesundheitsämter vor Ort entscheiden. Diese zu stärken sieht sie als vorrangig an.
Auch das ebenfalls rot-rot-grün regierte Berlin und Bremen schließen sich einem bundesweiten Beherbergungsverbot bislang nicht an. Der Großteil der Länder, darunter Bayern, Brandenburg und NRW wollen es dagegen umsetzen. Andere wie Rheinland-Pfalz wollen an strengeren Einreiseregeln wie einer Quarantänepflicht festhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch