Jahrestag Genozid von Srebrenica: In Bosnien war kein Bürgerkrieg
28 Jahre nach dem Massaker leben Serben und Bosniaken in Srebrenica wieder nebeneinander. Über die Ereignisse redet man jedoch immer noch nicht.
Was wird also passieren, wenn die serbische Führung unter Milorad Dodik die erst vorige Woche ausgesprochene Drohung wahr macht, die serbische Teilrepublik für unabhängig zu erklären? Die Gedenkstätte mit dem weitläufigen Friedhof und den Hangars der alten Batteriefabrik, die damals als Unterkunft der UN-Soldaten dienten, wird zwar heute von Polizisten aus dem Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina kontrolliert. Denen ist es in den letzten Jahren in der Tat gelungen, die Anlage, die Gräber und die Besucher der Gedenkstätte vor Vandalismus zu schützen. Doch könnte diese Handvoll von netten und hilfsbereiten Polizisten die Gedenkstätte bei einem ernsthaften Angriff serbischer Extremisten verteidigen?
Wohl kaum. Die Überlebende und Sprecherin der Mütter von Srebrenica, Munira Subašić, sieht aus dem Fenster und dem Vorgarten des schmucken Häuschens, das ihr und einigen Mitstreiterinnen als Büro und gleichzeitig als Wohnung dient, täglich die langen Reihen der Gräber der damals Ermordeten. Die grauhaarige Dame lebt mit den Gräbern und ihrer Geschichte.
Unter ihnen auch die ihres Sohnes und Ehemannes, einem ehemaligen Direktor der Bauxitmine von Srebrenica, deren Gebeine erst lange Jahre danach geborgen werden konnten. Und natürlich erinnert sie sich, welche erneuten Erniedrigungen, welche Übergriffe und Beleidigungen die überlebenden Opfer und sie selbst kurz nach dem Krieg aushalten mussten, um ihrer ermordeten Angehörigen zu gedenken.
Erinnerungen an glückliche Zeiten vor dem Genozid
Munira Subašić ist bis heute das Gesicht der Überlebenden, die Repräsentantin der Mütter von Srebrenica, sie spricht für die gefolterten, vergewaltigten und getöteten Menschen. Die Endsiebzigerin spricht über das Leben in der Stadt, wie es einst war, als in ihrem Wohnblock noch Serben, Kroaten, Juden und Bosniaken Tür an Tür lebten, als man die religiösen Feste gemeinsam feierte: „Es war eine glückliche Zeit.“
Subašić weiß, wie aus dem Nichts heraus die Hölle sich öffnen kann. Sie ist nicht naiv. Sie verfolgt alle Reden der serbischen Extremisten. Ihre Sprache klinge heute wieder wie am Anfang des Krieges 1992.
Plötzlich waren 1992 viele der serbischen Bewohner der Stadt verschwunden, sie waren zu den Angreifern übergelaufen, die Stadt wurde dann umzingelt und beschossen. Vom Berghang oberhalb des Stadtzentrums mit der wiederaufgebauten Moschee und der orthodoxen Kirche liegen die Häuser dicht an dicht. Srebrenica liegt langgestreckt in einem engen Tal, das sich hin zu dem ehemaligen Industriegebiet in Potočari ausweitet.
In diesem Talkessel waren mehr als 40.000 Menschen über drei Jahre lang der serbischen Artillerie ausgesetzt, obwohl Srebrenica ab 1993 zur Safe Area der UN erklärt war. Ein Kontingent von Blauhelmen sollte die Stadt und ihre Einwohner beschützen. Und auch die bosniakischen Flüchtlinge aus den Städtchen und Dörfern entlang der Drina, die in Srebrenica Schutz gesucht hatten. Am 11. Juli 1995 flohen sie gemeinsam nach Potočari zu den niederländischen UN-Truppen, obwohl diese die Bewohner nicht mehr schützen wollten.
Dokumente Hunderter Überlebenden
Die Bauten der einstigen Batteriefabrik in Potočari, die gegenüber dem Gräberfeld liegen, dienten als Hauptquartier der niederländischen UN-Truppen. Jetzt werden die Hallen umgebaut. Im alten Gebäude konnte man das Versagen der UN spüren, ja sogar riechen. Jetzt ist eine schmucke Gedenkstätte entstanden, mit einer Bibliothek, mit Ausstellungs- und Vortragssälen, einem Kino. In einer Videothek sind die Schicksale von Hunderten von Überlebenden dokumentiert.
Wie die von Azir Osmanović, damals 13 Jahre alt, jetzt führt er Besucher durch die Anlage. Er war unter jenen, die am 12. Juli 1995 vor den Hallen standen und darauf warteten, ausgesiebt und zu den Bussen zugelassen zu werden. Männer nach links, Frauen und Kinder nach rechts. Die Frauen sollten nach Tuzla ins freie Gebiet gebracht werden, die Jungs unter 12 auch. Er war schon 13, aber kleinwüchsig. „Ich habe mich damals noch kleiner gemacht“, sagt er. Er ergiff die Hand seiner Großtante und brachte sie zu dem Bus. So schlüpfte er durch die Reihen der serbischen Soldaten, die gnadenlos alle Knaben über 12 aussonderten und den Erschießungskommandos übergaben. Ein Teil seiner Familie wurde ermordet, der Vater und eine Schwester überlebten, der jüngere Bruder beging nach den traumatischen Erlebnissen Suizid.
Jede Person kann eine Geschichte erzählen, die Stoff für Romane und Filme bietet. In der Videothek sind jetzt Hunderte Interviews mit Überlebenden dokumentiert. Die Besucher können sie per Knopfdruck abrufen. Sie erzählen von der Flucht der mehr als 15.000 Männer, die versuchten durch die Wälder ins befreite Gebiet bei Tuzla zu fliehen und in Hinterhalte der serbischen Soldateska gerieten.
8.374 sollen es sein, die damals ab dem 11. Juli in wenigen Tagen ermordet worden sind. Auf dem Friedhof sind jetzt über 6.721 Menschen begraben, alle aus Massengräbern mit Namen identifiziert. Durch langwierige DNA-Tests haben sie ihre Identität und Würde wiedererlangt. An diesem 11. Juli 2023 werden wieder 30 Gräber hinzukommen.
Erinnerung aufleben lassen als Art Therapie
Hasan Hasanović, ebenfalls Überlebender, hat damals seinen verwundeten Zwillingsbruder Kilometer um Kilometer durch die Wälder geschleppt. Der Bruder starb, er konnte ihn nicht retten, es gelang ihm aber selbst, die befreite Zone um Tuzla zu erreichen. Auch er ist nach Potočari zurückgekehrt und schildert den Besuchern mit großer Geduld und ausführlich die Ereignisse von damals. Die Erinnerung aufleben zu lassen sei eine Art Therapie für ihn, sagt er. Jetzt warten die beiden auf die 4.000 Menschen, die von Tuzla aus nach Srebrenica laufen werden, sie wollen den Marsch von damals nachempfinden. Und auf die Delegation des jüdischen Weltkongresses.
Lernen die Menschen vor Ort aus den Erschütterungen der Vergangenheit? Für serbische Jugendliche ist die Gedenkstätte eine No-go-Area. Keine serbische Schulklasse oder Serben aus der Region haben jemals das Gelände besucht. Zwar leben Serben und bosniakische Rückkehrerfamilien nebeneinander, doch über die Verbrechen wird nicht gesprochen.
Die Ställe von Kravica, wo über 1.300 Männer aus Srebrenica erschossen wurden, werden renoviert, die Spuren, die Einschusslöcher, werden übertüncht, die Verbrechen verwischt. Gegen die Proteste von Hinterbliebenen. Der jetzige serbische Bürgermeister klagt aber, Subašić und die anderen Mütter verbreiteten Hass …
Die Mütter von Srebrenica haben durchgesetzt, dass das Massaker vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und dem Internationalen Gerichtshof als Völkermord eingestuft worden ist. Dass aber jetzt von Deutschland aus die Opfer von Srebrenica wissentlich herabgesetzt werden, ist schon erstaunlich. In der FAZ wurde kürzlich die Zahl der Opfer von Srebrenica mit den Opfern von Bleiburg im Mai 1945 verglichen. Die Opfer von Bleiburg waren SS-Truppen und Soldaten der rechtsextremen kroatischen Ustaschen und serbischen Tschetniks. Für Subašić ist es eine Beleidigung, in einem Atemzug mit diesen Nazi-Mördern genannt zu werden.
Trotzdem bleibt sie optimistisch. Denn es gibt auch Durchbrüche. Über Jahrzehnte habe sie dafür gekämpft, den serbischen Aggressionskrieg in Bosnien als das zu bezeichnen, was er ist. Das wurde in der internationalen Gemeinschaft bisher vermieden, man sprach von einem „Bürgerkrieg“. Der Chefankläger des UN-Tribunals in Den Haag, Serge Brammertz, habe aber kürzlich erklärt, „der Krieg in Bosnien war kein Bürgerkrieg“ – er sei eine geplante Aggression Serbiens gewesen, „das steht jetzt fest.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“