Jahresrückblick: Weg damit!
Für unseren Autor ist es höchste Zeit, sich vom Denken in Kalenderjahren zu verabschieden. Im Jetzt entscheidet sich die Zukunft.
F ür das journalistische Tagesgeschäft spielt der Blick auf die Jahrtausende aus naheliegenden Gründen keine Rolle. Aber angesichts der drohenden Katastrophe kann es nicht schaden, sich einer wesentlichen Tatsache gewahr zu werden: Die Zivilisationen kommen und gehen. Um unsere ist es nicht gut bestellt.
Das fällt den Leuten zum Jahreswechsel zwar besonders stark auf, wird aber sogleich der Logik des Kalenderjahres untergeordnet. So enden die Jahreschroniken, die wir dieser Tage zu lesen und zu sehen bekommen, oft mit dem Wunsch, im nächsten Jahr werde alles, wenn schon nicht gut, dann doch zumindest besser.
Da wird etwa im Spiegel zwar ein „perfekter Sturm globaler Krisen“ konstatiert, also düster aufs fast vergangene Jahr geblickt, aber auch die Hoffnung formuliert, dass die „goldenen Jahre“ zurückkehren könnten. Die FAS nimmt die allgemeine Erschöpfung in den Blick und zitiert einen Psychiater: „Je länger eine Krise währt, desto schwerer fällt die Regeneration.“ Man fragt sich also, wie viel ein mitteleuropäischer Mensch aushält, bevor er vollends durchdreht. Die derzeitige „Polykrise“ ist anscheinend ein bisschen zu viel fürs Gemüt.
Wir wissen und wir verdrängen
Kurz gesagt, überall wird geredet und geschrieben, als sei es in diesem Jahr besonders dicke gekommen. Dafür wird in ersterer Zeitung das Bild des „Schwarzen Schwans“ bemüht, eine Metapher von Nassim Nicholas Taleb, mittels derer der Mathematiker „nicht vorauszusehende Ereignisse mit massiven Folgen für die Welt“ beschreibt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das ist das Fazit des Jahres 2022? Wir wissen seit Marx und Engels, dass die kapitalistische Moderne eine Dauerkrise ist, die uns zwar unvorhergesehenen Wohlstand beschert, aber eines Tages ruiniert haben wird. Wir wissen seit sechzig Jahren, dass wir den Planeten überheizen. Wir wissen, dass unsere Spezies ein Killer ist, der die Artenvielfalt innerhalb von hundert Jahren in einem Maß zerstört hat, das bis dahin Meteoriten vorbehalten war, die unversehens aus dem All aufschlugen.
Wir wissen, dass das Schwinden der Biotope der Grund dafür ist, dass fiese Viren nun viel häufiger von der Fledermaus auf den Menschen überspringen. Wir wissen das alles schon lange. Bisher dachten wir halt, wir könnten es uns leisten, unser Wissen zu verdrängen und uns bei einer schönen Netflixserie ein bisschen zu entspannen.
Das Genre des Jahresrückblicks mag einst, in kommunikativ bedächtigeren, prädigitalen Zeiten der gesellschaftlichen Selbstverständigung gedient haben. Heute ist es ein Genre, das dazu beiträgt, uns zu versichern, dass schon alles irgendwie gut ausgehen wird: neues Jahr, neues Spiel, neues Glück. Es ist an der Zeit, dieses Denken zu verlernen und stattdessen jeden Morgen aufs Neue zu sagen: Dieser Tag zählt. Es gibt nur die Gegenwart.
Im Hier und Jetzt werden die Entscheidungen darüber gefällt, ob in 50 Jahren noch Chroniken der Menschheitsgeschichte geschrieben werden oder nicht.
Jetzt oder nie
Um das Notwendige zu tun, müssen wir uns also aufs Jetzt konzentrieren. Um uns von der Idee, dass zu Silvester die Karten neu gemischt werden, zu verabschieden, ist es vielleicht hilfreich, in anderen Zeiträumen zu denken. Viele Kulturen nahmen und nehmen den Gang der Zeit nicht im Rhythmus von Kalenderjahren wahr. Sie schauen auf den Zyklus des Mondes. Die Umrundung unseres Planeten um die Sonne wiederum gibt zweimal Anlass zu feiern: die Sonnenwende im Winter und im Sommer.
Wer in Kalenderjahren denkt, glaubt an die Erlösung: Alles wird gut. Wer die kosmischen Zyklen im Blick hat, ist sich bewusst, dass in der Natur alles wiederkehrt, die eigene Zeit aber begrenzt ist.
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