Italien ist Europameister: Der gekaperte Fußball

Mit aller Macht wurde das EM-Turnier durchgepaukt. Nun ist es vorbei, die Uefa kann ihr Geld zählen. Doch wofür wurde das alles gemacht?

Italiens Fußballnationalmannschaft feiert den EM-Gewinn auf dem Rasen des Wembleystadions in London.

Das neue Gesicht des Fußballs: Italiens Nationalmannschaft feiert den EM-Titel Foto: Michael Regan/reuters

Irgendeine Lehre hält ja der Fußball immer bereit. Wenn elf gegen elf junge Männer im Namen ihrer Staaten nach Regeln, die etwa so alt sind wie die bürgerlichen Nationen, gegeneinander antreten, um den Besten zu ermitteln, steht immer ein großes Stück ihrer Gesellschaft auf dem Platz. Dieses Mal scheint die Lehre jedoch nur zu lauten, dass Italien am Ende irgendwie immer gewinnt. Und dass England keine Elfmeter schießen kann. Wenn das die Essenz dieses Finales um die Europameisterschaft gewesen sein soll, das am Sonntag in London ausgetragen wurde, dann können wir diese EM gleich ganz abhaken. Und den ganzen Sport gerade mit.

Soll das Ergebnis dieses Mega-Events nun, im Jahr 2021, tatsächlich bloß lauten, dass Italien gewinnt und England Elfmeter verschießt? Dafür hat der europäische Fußballverband Uefa nationale Regierungen erpresst, mehr Leute ins Stadion zu lassen, als gesundheitspolitisch vertretbar ist?

Dafür wurde propagandistisch für ein „paneuropäisches“ Turnier in elf Städten getrommelt, das doch eher wie ein pandemisches daherkam? Das ganze Gedöns, den Menschen ein „Stück Normalität“ zurückgeben zu wollen, die ganze Lüge, es sei doch „nur Fußball“, der „nichts mit Politik“ zu tun habe? Bloß, damit die Uefa auf Teufel komm raus ihr gleichermaßen umstrittenes wie profitables Turnier austragen kann, weil sie an die Sponsoren- und Fernsehgelder ran will?

Ja. Zumindest scheint es so, dass mithilfe enormen politischen und ökonomischen Drucks die Lehre durchgesetzt werden sollte, dass Fußball nichts anderes als irgendein Spiel sei. Für diese fragwürdige Botschaft hat die Uefa mehr Macht mobilisiert, als sämtliche nationalen Regierungen Europas besitzen, Aserbaidschan und England inklusive.

Das Ende eines Sports, der Solidarität gelehrt hat

Dieses Turnier war nicht nur wegen der Pandemie und der bis heute immer noch nicht überschaubaren gesundheitlichen Gefährdung von Zuschauenden, Betreuern und Spielern sehr umstritten. Es war auch nicht nur deswegen höchst fragwürdig, weil der Erfinder dieser EM, die in keinem Staat stattfinden soll, Michel Platini, bald wegen Korruption zurücktreten musste. Diese Europameisterschaft markiert auch deswegen einen traurigen Tiefpunkt in der Geschichte dieses schönen Sports, weil von Uefa über Sponsoren bis hin zu assistierenden nationalen Regierungen alle daran gearbeitet haben, dem Fußball seinen guten, sozialen, demokratischen und auch subversiven Sinn zu nehmen.

Das kann nämlich Fußball sein, und das war er über weite Teile seiner über hundertjährigen Geschichte: ein Feld, in dem Solidarität geübt wird. Ein Sport, der die Gleichheit aller Teilnehmenden garantiert. Ein Beispiel für eine Kommunikation, die über Sprach- und Ländergrenzen nonverbal gelingt und doch sehr viel Freude macht. Und auch ein Faszinosum, das nicht zu Unrecht als Arbeitersport gilt, denn es gehört auf dem Platz zu den wenigen Möglichkeiten, die (freilich nur den männlichen) proletarischen Jugendlichen die Chance auf sozialen Aufstieg gewährt und die auf den Rängen Menschen, die sonst in der bürgerlichen Öffentlichkeit unsichtbar sind, eine Präsenz erlaubt. Und zwar gleich eine, die nicht selten ihre Kreativität, ihre kollektive Intelligenz und ihren Witz offenbart.

Das war einmal. Das gab es vor Corona, das gab es vor diesem mit aller Macht durchgepaukten Uefa-Sponsoren-Turnier. Davon war auf den Rängen im Londoner Wembleystadion genauso nichts zu sehen wie in Baku, Kopenhagen, St. Petersburg oder München. Im Stadion waren nicht mehr die, denen Fußball so viel bedeutet, dass sie beinah überall hinreisen, um ihren Sport so intensiv wie möglich zu erleben. Diesmal waren Leute auf den Rängen, die es gemäß den jeweiligen Regeln gerade so in die Arenen geschafft haben, sofern sie es sich finanziell leisten konnten.

Entsprechend sah es im Stadion aus, diesem Ort, der doch einmal so einzigartig war: Aus der kreativen Intelligenz wurde bloß noch das, was PR-Firmen ausgetüftelt haben. Aus der sozialen Botschaft wurde das Schwingen von Regenbogenfähnchen, wogegen ja nichts zu sagen ist, aber der Fußball könnte doch viel, viel mehr leisten, wenn, ja wenn es demokratischer zuginge. Und aus der oppositionellen und subversiven Praxis, die den Fußball so groß gemacht hat, wurde dumpfer Nationalismus, den die neuen Träger der Fußballkultur in den Stadien vermutlich für Working-Class-Benimm halten: Wo früher schlecht pfeifende Schiris oder sich ziemlich unsozial benehmende Spieler ausgepfiffen wurden, galt der Unmut nun den Hymnen oder, weil fußballerischer Sachverstand fehlte, nur noch irgendeinem gegnerischen Spieler, der gerade den Ball angenommen hatte.

Der sinnentleerte Volkssport

Der Fußball steht im Jahr 2021 ziemlich sinnentleert da, weil er nicht mehr, wie man früher sagte, „Spiel des Volkes“ ist. Er ist übernommen worden von Kräften, die mit ihm ihr Geld machen, die ihn gründlich durchkapitalisiert, umstrukturiert und mithilfe technologischer Mittel à la Videobeweis scheinbar objektiviert haben.

Ganz allein steht der Fußball damit nicht, vermutlich ist er noch nicht mal am Schlimmsten dran: Wer gerne tanzt und weiß, welche Ausdrucksmöglichkeiten der menschliche Körper bietet, wird ja mittlerweile an „Let’s dance“ verwiesen. Wer das Singen und die Musik liebt, wird in Castingshows geschickt, wo man sich von TV-Promis gründlich durchbeleidigen lassen muss, bloß um einen Rest von Chance auf sozialen Aufstieg zu haben. Wer die Vielfalt der Kulinarik liebt und gerne mit Lebensmitteln und Kräutern experimentiert, wird Fernsehköchen ausgeliefert, die Wörter wie „Hammer“ oder „Geschmacksexplosion“ sagen.

Da ungefähr ist mittlerweile auch der Fußball angekommen, das größte demokratische Spektakel, das die bürgerliche Gesellschaft einmal hatte. Die Lehre also aus diesem Turnier, das in diesen Zeiten niemand gebraucht hat? Engländer können keine Elfmeter schießen, Italiener schlängeln sich erfolgreich durch ein Turnier. Mehr als diese dumpfen Zuordnungen von Eigenschaften qua nationaler Herkunft soll uns der Fußball nicht mitzuteilen haben? Wer nur diese Europameisterschaft gesehen hat, könnte es fast glauben.

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Jahrgang 1964, freier Mitarbeiter des taz-Sports seit 1989

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