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Israels Bodenoffensive in Gaza-StadtWo sollen sie hin?

Die israelische Armee will Gaza-Stadt einnehmen, um die Hamas zu zerstören – und fordert die verzweifelte Bevölkerung zur erneuten Flucht auf.

Nach einem Angriff auf Gaza-Stadt am 16. September Foto: Khames Alrefi/imago

Deir al-Balah/Tel Aviv taz | Sie will nicht gehen. Auch wenn die Explosionen dem Haus von Jumana Salmi im Zentrum von Gaza-Stadt immer näher kommen. „Letzte Nacht war lang, die Fenster wackelten, und die Kinder haben sich an mir festgehalten“, sagt Salmi am Telefon. Mit Flugblättern und an Drohnen montierten Lautsprechern fordert Is­raels Militär die Menschen auf, die Stadt zu verlassen.

„Ich glaube nicht mehr, dass uns die Flucht retten wird“, sagt Salmi. Der Weg heraus aus dem früher wohlhabenden Viertel al-Rimal sei gefährlich, und auch die sogenannten humanitären Zonen im Süden würden bombardiert. „Wir haben keinen Ort, an den wir gehen können.“

Salmi weiß, was sie sagt. Zwei Jahre israelischer Angriffe im Gazastreifen haben gezeigt: Wo die Armee wie nun für Gaza-Stadt eine Evakuierungszone ausgerufen hat, geht sie anschließend mit äußerster Brutalität vor. Wer bleibt, läuft Gefahr, pauschal als Kombattant behandelt und getötet zu werden.

„Wir schlafen kaum“, sagt Salmi. Aus dem Fenster ihres Hauses beobachte sie mit ihren fünf Kindern nachts, wie Explosionen den Himmel rot erleuchteten. Am Wummern unterscheide sie Luftangriffe von „Roboterbomben“. Damit sind ausrangierte Truppentransporter gemeint, die israelische Soldaten mit Sprengstoff beladen und per Fernzündung in Wohnvierteln zur Explosion bringen. „Letzte Nacht explodierte eine im Nachbarviertel Scheich Radwan.“

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Ihr eigenes, ursprüngliches Haus in Tel al-Hawa im Süden der Stadt wurde bereits zu Kriegsbeginn zerstört. Im Stadtzentrum aber stehen teils noch ganze Straßenzüge. Dazwischen reihten sich zuletzt Zeltlager bis an den Strand. Auch die meisten Nachbarn würden sich weigern, zu gehen, sagt Salmi: „Meine größte Angst ist, alles zu verlieren, was uns geblieben ist.“

Israelische Soldaten drangen kurz nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 bis nach Gaza-Stadt vor, zogen sich aber schnell wieder zurück. Nun hat Israels Regierung die vollständige Einnahme der Stadt angekündigt. In den vergangenen zwei Wochen wurden zahlreiche bewohnte Hochhäuser aus der Luft zerstört. Die Einschläge ließen auch Salmis Haus beben. Seit Dienstag rücken Panzer ins Stadtzentrum vor.

„Gaza brennt“, schrieb Israels Verteidigungsminister Israel Katz auf X und versprach: Wenn die Hamas nicht aufgebe, werde Gaza-Stadt zerstört, wie zuvor bereits Rafah und Beit Hanun. Am selben Morgen veröffentlichte eine UN-Untersuchungskommission einen Bericht, in dem sie Israel wegen seines Vorgehens in Gaza Völkermord vorwirft.

Vier von fünf Tatbeständen aus der UN-Völkermordkonvention seien erfüllt. Die entscheidende Absicht dazu werde neben Aussagen der israelischen Führung auch durch das Vorgehen der Armee untermauert. Israel wies den Bericht zurück und nannte die Kommissionsmitglieder „Stellvertreter der Hamas“.

Der Regierung Benjamin Netanjahus zufolge gilt der Großangriff auf die Stadt der Zerstörung der Hamas und der Befreiung der etwa 20 noch lebenden israelischen Geiseln. Kaum jemand außerhalb seiner Regierung hält dieses Ziel für erreichbar. Nicht einmal der von ihm selbst eingesetzte Armeechef Ejal Zamir.

Wenn wir gehen, wird es bald nichts mehr geben, zu dem wir noch zurückkehren können

Jumana Salmi, Mutter aus al-Rimal

Binnen zwei Jahren wurde kaum eine Geisel militärisch befreit. Michael Milshtein, früherer Leiter der Palästinenserabteilung des israelischen Militärgeheimdienstes, sagt: „Selbst in Israel verstehen viele nicht mehr, was das Ziel ist.“ Die Hamas sei heute eine Guerillatruppe und durch die Offensive auf Gaza-Stadt nicht zu besiegen.

Die Mehrheit der Israelis ist Umfragen zufolge gegen den Krieg. Eine Welle an Wehrdienstverweigerung bliebe aber aus, weil viele im Reservedienst noch immer eine Verantwortung für ihr Land sähen, sagt Milshtein. Damit das so bleibt, setzt die Armeeführung in Gaza vor allem junge Wehrdienstleistende ein.

Der israelische Kurs führt indes immer weiter in die Isolation. Jüngst forderte die EU weitreichende wirtschaftliche Sanktionen. Der wachsende internationale Druck drohe, die Bevölkerung zunehmend auch im Alltag zu treffen, sagt Milshtein.

Dennoch akzeptieren Premier Netanjahu und seine rechtsextremen Minister auch im Falle einer Freilassung der übrigen Geiseln nichts weniger als eine bedingungslose Kapitulation der Hamas. Die Mehrzahl der Beobachter hält das für unrealistisch. „Der Einzige, der Netanjahus Meinung ändern könnte, wäre US-Präsident Trump“, sagt Milsthein.

Der aber lässt Israels Premier bisher freie Hand. Ein von der Hamas bereits Mitte August angenommenes Abkommen über eine Waffenruhe und die Freilassung von zehn noch lebenden Geiseln hat Israel vergangene Woche mit einem Luftangriff auf deren Auslandsführung in Katar vom Tisch gefegt.

Trotz der israelischen Drohungen wollen viele Bewohner Gaza-Stadt nicht verlassen. Israels Armee spricht von mehr als 350.000 aus Gaza-Stadt Geflohenen, die UN von 250.000. In jedem Fall aber befinden sich noch mehr als eine halbe Million Palästinenser im Norden des Küstenstreifens. Die Hilfsinitiative IPC hatte im August für diese Region eine Hungersnot ausgerufen.

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Die von Israel ausgewiesenen Gebiete im Süden sind bereits jetzt überfüllt. Das geht aus übereinstimmenden Berichten von Hilfsorganisationen und aus Satellitenbildern hervor, die die New York Times analysiert hat.

Auf dem sandigen Küstenstreifen al-Mawasi ziehen sich Zeltstädte vom Mittelmeerstrand bis etwa drei Kilometer ins Landesinnere. Selbst im israelischen Verteidigungsministerium hält man die „humanitäre Zone“ für zu klein und rechnet mit chaotischen Zuständen. Das berichtet Haaretz.

Israelische Behörden teilen immer wieder mit, im Süden Gazas humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich weist die Armee an den Grenzübergängen jedoch Essen, Medikamente und Zelte ab. Transporte in den Norden Gazas wurden nach einer Lockerung im August wieder stark eingeschränkt.

Dem UN-Nothilfebüro Ocha zufolge bräuchte es Zeltmaterial für rund 1,4 Millionen Menschen. In den vergangenen zwei Wochen gelangten israelischen Angaben zufolge nur 14.000 Zelte in den Küstenstreifen, Ocha zufolge gar nur 1.400.

Wie Jumana Salmi und ihren Kindern im Zentrum von Gaza-Stadt fehlen vielen Familien die Mittel zur Flucht: Ein Zelt kostet derzeit umgerechnet etwa 1.000 Euro, der Transport in den Süden mehrere hundert Euro. „Wir haben kein Auto, kein Einkommen und kein Zelt“, sagt Salmi. Die Kinder hätten bereits jetzt Albträume und würden oft das wenige verfügbare Essen verweigern. Bleiben will sie dennoch: „Wenn wir gehen, wird es vielleicht bald nichts mehr geben, zu dem wir noch zurückkehren können.“

Von Luftangriff getroffen

Seit dem israelischen Bruch der Waffenruhe im Frühjahr geht die Armee deutlich zerstörerischer vor. Satellitenbildern zufolge wurden zahlreiche Stadtviertel tief innerhalb des Gazastreifens systematisch zerstört. Das Verteidigungsministerium setzt dabei massiv auf private Bauunternehmer, wie eine Recherche von Haaretz zeigt. Umgerechnet mehr als 1.200 Euro pro Tag werden für den Betrieb eines schweren Baufahrzeugs gezahlt.

Die Arbeiten, an denen häufig radikaler israelische Siedler aus dem Westjordanland beteiligt seien, sollen Israels Führung zufolge Hamas-Tunnel und -Infrastruktur beseitigen. Tatsächlich sind binnen weniger Monate ganze Städte in Trümmerfelder verwandelt worden.

Die humanitäre Versorgung ist mittlerweile zudem auf wenige Verteilstellen der von Israel gestützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) im Süden eingeschränkt. All dies deutet darauf hin, dass die rund 2 Millionen Palästinenser im Süden konzentriert werden sollen.

Auch wenn Jumana Salmi und zahlreiche andere bleiben wollen, dürften sich in den kommenden Tagen dennoch viele Menschen auf den Weg in den Süden machen. Aus Angst vor den nahenden israelischen Soldaten.

Die 52-jährige Um Mohammed ist schon gen Süden gezogen. Die Mutter von sechs Kindern ist seit Kriegsbeginn schon 14-mal geflohen. Ihr krebskranker Sohn sitzt im Rollstuhl. Der 14-Jährige erlitt bei einem Luftangriff zusätzlich Verbrennungen. „Wir haben die ersten Evakuierungsaufforderungen ignoriert und auf eine Verhandlungslösung gehofft“, sagt sie. Dann sei eine ehemalige Schule wenige Meter von ihrer Unterkunft von einer Bombe getroffen worden. „Der Boden bebte unter unseren Füßen, wir schrien vor Angst.“

Die Familie musste sich trennen, die Mutter fuhr mit ihrem Sohn die rund 20 Kilometer in den Süden vor. Die umgerechnet 300 Euro für den Transport musste sie sich leihen. Ihre Töchter sollen Anfang der kommenden Woche nachkommen. Um Mohammeds Mann aber hat bisher keinen Platz auf einem Transporter gefunden. Fotos und Videos zeigen lange Kolonnen von mit Habseligkeiten und Menschen beladenen Lastwagen und Eselskarren auf dem Weg gen Süden.

Stoffreste statt Windeln

Um Mohammed sitzt vor einem Zelt südlich von Deir al-Balah. Neben der Tür versinken die Räder des Rollstuhls ihres Sohns im sandigen Boden. Drinnen liegen Matratzen und weiter hinten ein Stapel Plastiktüten. Für den Ventilator gegen die drückende Sommerhitze fehlt der Strom. Sie weint, als sie von ihrer letzten Flucht 2024 erzählt. „Wir mussten schon damals in Zelten leben, in denen ich meinen Sohn nicht pflegen kann.“ Er sei auf Windeln angewiesen.

Weil sie keine habe, sammle sie nun Stoffreste. Weit und breit gebe es kein Badezimmer oder fließendes Wasser. „Inzwischen wiederholt er ständig, uns solle endlich eine Rakete treffen, damit wir in Frieden sein können.“ Bei ihrer letzten Flucht habe die Familie kaum etwas mitnehmen können. Sie hätten im Winter vor Kälte gefroren, während sie von Chan Junis nach Rafah und wieder zurück zogen. Diesmal habe sie zumindest einige Decken gerettet, sagt Um Mohammed.

Sie trauert um ihre Heimat. Auf ihrem Telefon zeigt sie ein Video, das ihre Tochter auf den Straßen von Gaza-Stadt aufgenommen hat. „Ich erwarte nicht, dass wir dorthin zurückkehren werden“, sagt Um Mohammed. „Sie werden mit Gaza-Stadt das Gleiche machen, was sie mit Rafah getan haben.“ Rafah, die südlichste Stadt im Küstenstreifen, wurde bis auf wenige Gebäude vollkommen zerstört.

Die Geflohenen hier könnten zudem bald erneut vertrieben werden. Netanjahu hatte bereits im August angekündigt, auch die bewohnten Gebiete in Zentralgaza erobern zu wollen. Ein Sprecher der israelischen Armee deutete bereits an: Gaza-Stadt sei die „wichtigste Hochburg der Hamas, aber nicht die letzte.“

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