Israel, Palästina und das Westjordanland: Wofür steht Europa?

Israel hat das Westjordanland de facto annektiert. Die EU hat das zwar kritisiert. Aber den Worten folgen keine Taten, der „Friedensprozess“ bleibt Fassade.

Illustration von Menschen auf zwei Hügeln.

Losgelöst von der eigenen Lebensrealität: die Debatte um die Annexion des Westjordanlands Illustration: Katja Gendikova

Während die Welt darüber diskutierte, ob Israel am 1. Juli Teile des besetzten Westjordanlands annektieren wird oder nicht, beobachteten wir als drei junge palästinensische Menschen, die sich für Freiheit und Menschenrechte einsetzen, mit Befremden, wie losgelöst diese Debatte von unserer Realität ist. Wir sehen Annexion nicht als drohende Gefahr in der Zukunft, sondern als einen bereits seit Generationen andauernden Prozess, der das System definiert, in dem wir leben: völlige israelische Kontrolle vom Jordan bis zum Mittelmeer, wo Freiheit und Rechte an die Ethnizität eines Menschen gebunden sind.

Die Weltgemeinschaft entrüstet sich. Doch diese Entrüstung bezieht sich nicht auf das Herrschaftssystem, das zu unserer Unterdrückung, Diskriminierung, Vertreibung und Auslöschung führt. Die Weltgemeinschaft sorgt sich, dass die israelische De-jure-Annexion sie zwingen wird, endlich zu akzeptieren, dass der Osloer „Friedensprozess“ und die Zweistaatenlösung eine Fassade sind und die Realität vor Ort Apartheid ist.

Als die Generation, die in der Oslo-Ära auf­gewachsen ist, kennen wir diese Fassade nur zu gut. Der „Nahost-Friedensprozess“ und das Zweistaatenparadigma haben jeden Aspekt unseres Lebens bestimmt. Unserer Generation wurde ein unabhängiger Staat versprochen. Doch nun sind wir auf kleine Inseln inmitten eines Ozeans israelischer Kontrolle im Westjordanland und in Jerusalem sowie auf ein Getto in Gaza eingeschränkt. Gleichzeitig sind die palästinensischen Bürgerinnen und Bürger Israels marginalisiert, und die palästinensischen Flüchtlinge leben weiterhin im Exil.

Wir sind eine geografisch diverse Gruppe – was die dem palästinensischen Volk auferlegte systematische Fragmentierung widerspiegelt –, doch wir sehen uns alle gemeinsam dieser beängstigenden Realität gegenüber. Uns werden zunehmend das Recht und der Raum ­verweigert, diese Realität zu definieren, auszu­sprechen und anzufechten. Wenn wir Mittel des Protests und der Lobbyarbeit anwenden, die demokratischen Grundwerten entsprechen, werden wir verleumdet und angegriffen.

Inès benötigt zum Beispiel jedes Mal eine israelische Erlaubnis, um in Palästina einzureisen. Sich öffentlich zu äußern und ihre Meinung zu sagen birgt immer das ­Risiko der Ausweisung; Selbstzensur ist daher für sie immer ein Thema. Als Palästinenserin hat sie nur aufgrund des Privilegs eines ausländischen Passes die prekäre Möglichkeit, ihr Heimatland zu besuchen. Dieses Privileg genießen ihre Cousins und Cousinen in Beirut wenige Hundert Kilometer entfernt nicht, die wie Millionen palästinensischer Flüchtlinge im Exil leben und denen das Grundrecht verwehrt wird, in ihrer Heimat zu leben und ihren Beitrag zur palästinensischen Selbstbestimmung zu leisten.

Illegale israelische Siedlungen

Obwohl er in Jerusalem geboren ist, brauchte Salem eine israelische Genehmigung, um dort zur Schule zu gehen, weil sein Personalausweis ihn dem Westjordanland zuordnet. Israel teilt den Palästinenserinnen und Palästinensern je nach Herkunft einen unterschiedlichen Rechtsstatus zu und verwehrt ihnen so Freiheit und gleiche Rechte. Auf dem Weg zur Schule sah Salem jeden Tag illegale israelische Siedlungen wachsen und sich über die Hügel um Jerusalem aus­dehnen. Jetzt sieht er auf dem Weg zur Arbeit aus der Ferne, wie die Stadt, die er nicht ohne israelische Erlaubnis besuchen kann, vom West­jordanland abgeschnitten und von Israel annektiert wurde. Dies ist nur ein Teil der israelischen Politik, die seit 1967 darauf abzielt, Palästinenser durch die Zerstörung von Häusern, Grenzverschiebungen und den Widerruf der Aufenthaltsgenehmigung von 14.000 Menschen systematisch von der Landkarte Jerusalems zu tilgen.

Fadi ist in einer Stadt im Westjordanland aufgewachsen, in der israelische Siedler und Soldaten mit Maschinengewehren auf ihn und seine Freunde schossen, wenn sie Fußball spielten. Eine der vielen Siedlungen, die seine Stadt umzingeln, ist Bet El – eine Siedlung, die Spenden des amtierenden israelischen Botschafters der USA, David Friedman, erhalten hat. In seiner Arbeit mit palästinensischen Kindern, die vom israelischen Militär festgenommen und misshandelt wurden, sieht er, wie die israelische Inhaftierung Hunderter Kinder strategisch eingesetzt wird, um die palästinensische Gesellschaft zu brechen. Es gibt zwei Rechtssysteme im Westjordanland – eines für die palästinensische und eines für die Siedlerbevölkerung. Israels Militärrecht behandelt palästinensische Kinder als Erwachsene, in einem System von Militärgerichten mit einer Verurteilungsquote von 99 Prozent. Siedler, die entsetzliche Verbrechen begehen, kommen leicht ohne Strafe davon. Kurz gesagt: Israel hat das besetzte palästinensische Gebiet in das Apartheidsystem des 21. Jahrhunderts verwandelt, und Kinder sind die größten Opfer.

Gaza nicht vergessen

In der Debatte über Annexion wird Gaza leicht vergessen. Dabei hat Israel im Zuge seiner De-facto-Annexion den Gazastreifen fortschreitend isoliert und in der Belagerung der letzten 13 Jahre alle, die dort ein und aus gehen, starken Beschränkungen unterworfen. Die meisten jungen Palästinenser und Palästinenserinnen außerhalb Gazas, auch wir, sind noch nie dort gewesen, obwohl man in wenigen Stunden dorthin fahren könnte. Gaza durchlebt eine dramatische, menschengemachte humanitäre Krise: 90 Prozent der Menschen sind auf Lebensmittelhilfe angewiesen, 38 Prozent leben in Armut, und die Jugendarbeitslosenquote ist eine der höchsten der Welt.

Die EU ist mitschuldig daran, dass diese Realität in allen ihren Aspekten fortdauert. Sie hat seit Jahrzehnten ihre Beziehungen zu Israel ausgebaut, obwohl es wiederholt gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstoßen hat. In unserer Jugend und nun als Erwachsene haben wir immer wieder scharf formulierte Stellungnahmen aus den europäischen Hauptstädten gehört, aber diesen Worten sind bislang keine Taten gefolgt. Bloße Verurteilungen und leere Worte haben uns dahin geführt, wo wir heute stehen. Nun, da die De-jure-Annexion bevorsteht, fordern viele Europäerinnen und Europäer, dass ihre Regierungen handeln, um palästinensische Rechte zu schützen, doch es scheint, als würden die europäischen Regierungen wieder nicht den Mut haben, selbst die grundlegendsten Prinzipien des Völkerrechts zu verteidigen.

Es sollte keinen Unterschied machen, was am 1. Juli passieren sollte. Es besteht unmittelbarer Handlungsbedarf. Wir müssen die Fassade hinter uns lassen, die uns die vergangenen Jahrzehnte gefesselt und unsere Fähigkeit untergraben hat, die grundlegendsten unserer menschlichen Ansprüche zu verfolgen. Europa muss seinen politischen Diskurs der Realität vor Ort anpassen, das System der Dominanz als solches erkennen und politischen und wirtschaftlichen Druck auf Israel ausüben, um es abzuschaffen.

Unsere Zukunftsvision ruht auf den Säulen der Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Würde. Wir wollen das heute bestehende Apartheidsystem in einen neuen Gesellschaftsvertrag überführen, der sicherstellt, dass alle, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, frei und gleich sind, dass Gerechtigkeit herrscht und alle ein Leben in Würde leben, ohne Ansehen von Religion, Ethnizität, Rasse oder Geschlecht. Dabei geht es nicht darum, wer man ist oder wo man herkommt oder ob man palästinensisch oder jüdisch ist – es geht um die Werte, die man vertritt. Wir müssen die gegenwärtige Struktur und die antiquierte Führung, die sie verfolgt, hinterfragen. Wir sollten uns fragen: Wollen wir eine Welt nach dem Geschmack von Trump, ­Orbán, Bolsonaro und Netanjahu? Oder wollen wir uns für eine Welt ohne Vorherrschaft, Unterdrückung und Ungerechtigkeit einsetzen?

Als junge palästinensische Menschen sind wir inspiriert vom Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit auf der ganzen Welt, von der Bewegung „Black Lives Matter“ und den Forderungen nach Demokratie in Hongkong. Wir werden unseren Kampf nie aufgeben, und wir werden uns daran erinnern, ob Deutschland und Europa auf der Seite der Freiheit, der Menschenrechte und des Völkerrechts standen.

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31, ist ein Aktivist und Unternehmer im Bereich erneuerbare Energien aus Al-Bireh im Westjordanland.

30, setzt sich auf der ganzen Welt für palästinensische Freiheit und Rechte ein. Er kommt aus Jericho im Jordantal.

32, ist eine internationale Aktivistin und außenpolitische Analystin. Sie ist eine Palästinenserin im Exil, die in Europa aufgewachsen ist; ihre Familie stammt aus Galiläa.

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