Intimität in Langzeitbeziehungen: Penetrationsstress muss nicht sein
Wer lange zusammenlebt, braucht intime Anschubser, sagen Lebensberater. Es geht aber auch ohne, sagen andere. Zum Beispiel mit Loriot.
M it Freundin Hille kam ich neulich auf Zungenküsse zu sprechen. In einem Interview mit Beziehungsguru John Gottman las ich, Langzeitpaare sollten sich jeden Tag mindestens einmal sechs Sekunden lang küssen, das helfe jeder Ehe. „Sechs Sekunden. Ist das schon ein Zungenkuss?“, fragt Hille. „Jeden Tag ein Zungenkuss nach 30 Jahren Ehe. Klingt nach Stress.“ Hille ist mit Günni schon sehr lange zusammen.
Der Essayist Florian Felix Weyh schrieb in „Die ferne Haut“, viele Langzeitpaare würden sich nicht mehr zungenküssen, weil das als ein Zuviel an Intimität wahrgenommen werde. Ein geteilter Alltag sei so viel intimer als ein kurzer Austausch von Körperliquiden.
„Wäre mal eine interessante Umfrage: Küssen Sie Ihren Langzeitpartner noch mit der Zunge? Habe ich noch nichts drüber gelesen“, sage ich. In den Umfragen geht es immer um Sex mit Penetration. Wie oft? Wie oft noch? Auch noch nach 30 Jahren? Mit 65? Hm?? Wenn man das liest, fühlt man sich wie bei der Penetrations-Stasi. Sex mit Penetration ist nach dieser penetranten Logik der Beweis, dass alles noch stimmt in der Ehe. Oder eben nicht. „Also wenn man zwei Wochen keinen Sex gehabt hat, dann ist was faul in der Ehe,“ hatte Kollegin F. schon vor 25 Jahren behauptet. Ich war damals schon innerlich zusammengezuckt und hatte ein nebulöses Schuldgefühl verspürt.
Könnte es sein, dass in vielen Langzeitbeziehungen „was nicht stimmt“? Und man trotzdem zusammenbleibt? 60 Prozent der Ehepaare, die 25 Jahre zuvor heirateten, sind noch zusammen, sagt das Statistische Bundesamt in einer fünf Jahre alten Statistik. 68-jährige B-Prominente, die die Wespentaillen ihrer jungen Zweitfrauen umfassen, kommen vor allem in der Bild vor und sind nicht die Mehrheit.
Aus Andeutungen in meinem Umfeld (niemand redet gern ganz explizit über Sex mit Ende 60, auch nicht mit Freund:innen) und meiner eigenen Langzeitehe weiß ich, dass jede Langzeitpartnerschaft ihren eigenen Algorithmus hat. Die einen fühlen sich einander nah, wenn sie um Mitternacht im Bett gemeinsam auf dem iPad alte Loriot-Sketche gucken, sich dabei ausschütten vor Lachen und jedenfalls kein Penetrationsstress herrscht. Die andern reden mit 70 Jahren noch über ihre sexuellen Vorlieben und sind froh, wenn es wenigstens im Urlaub noch zu Sex kommt. Wieder andere sorgen sich um die Gesundheit der Partner und fragen beunruhigt nach, wenn die Schmerzen im linken Arm nicht weggehen und Übelkeit dazukommt. Die Zeit läuft, eine Beziehung kann dadurch kostbarer werden.
„Humor und Respekt sind wichtiger als Sex in der Langzeitehe“, behauptet Hille. „Übrigens dauern Zungenküsse elf Sekunden, lese ich gerade.“ Sie googelt immer auf ihrem Handy herum. „Wenn man sich jeden zweiten Tag zum Lachen bringt, schützt das jede Ehe“, sage ich. So weit reicht meine Empirie und ich liebe es, neue Regeln zu erfinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren