Internettrend Ragebait: Reichweite geht durch den Magen
Content Creator*innen auf Instagram und Tiktok kochen eklige Rezepte und setzen sich dem Hass ihrer Community aus – und das ist genau so gewollt.
Im Sinne unseres Bildungsauftrags als Medium hier ein Rezept für ein gesundes Frühstück: Nehmen Sie 500 Gramm Hackfleisch und braten Sie es ohne Öl in der Pfanne an. Dann fügen Sie 50 Gramm klein geschnittene Datteln und drei Bananen hinzu. Alles zusammen für zehn Minuten anbraten – und fertig ist das perfekte Frühstück.
Wie fühlen Sie sich? Angewidert? Empört? Damit sind Sie nicht allein. Auch die Kommentator*innen des Instagram-Reels, aus dem dieses Rezept stammt, waren wütend. „Leute, die nicht kochen können, sollten es auch nicht tun“, schrieb eine Userin. Andere griffen ganz einfach zu Kotzsmileys.
Doch diese Kommentare werden den Content Creator nicht zum Umdenken bringen. Der Shitstorm war nämlich von Anfang an einkalkuliert. Die User*innen sind auf einen Ragebait hereingefallen.
In der Liebe und in den sozialen Netzwerken ist alles erlaubt. Im Kampf um Reichweite, Klicks, Likes – und damit auch Macht – hat sich ein besonders provokantes Mittel etabliert: Ragebait, zusammengesetzt aus rage (Wut) und bait (Köder). Gemeint sind Inhalte, die gezielt Empörung auslösen sollen. Sei es mit absurden Tagesabläufen, fragwürdigen Elterntipps, die an Kindesmisshandlung grenzen, misogynen Takes zu Dates – oder eben mit widerlichen Kochrezepten.
Eier in der Toilette, rohes Hack aus dem Toaster
Eine Content Creatorin beispielsweise (wir nennen den Namen nicht, um ihr nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen) hat ihren Account darauf ausgerichtet, mit ekligen Rezepten die Gemüter zu erhitzen. Wenn sie Eier in der Toilette färbt, rohes Hackfleisch aus dem Toaster kratzt oder mehrere Tiefkühllasagnen zusammenschüttet und mit Käse überbackt, wird das millionenfach geklickt.
Sie hat mit Essensverschwendung – und der Empörung darüber – Karriere gemacht. Und sie ist nicht die Einzige. Gerade im Essensbereich lässt sich mit wenig Aufwand viel Aufsehen erregen: mal die Eierschale im Teig lassen, mal einen Liter Öl ins Nudelwasser kippen, mal Hühnchen mit Spülmittel waschen – und wie auf Knopfdruck Hunderte empörte Kommentare.
Empörung verbreitet sich besonders schnell, und die Algorithmen gießen Öl ins Feuer, wie Christian Montag erklärt. Er ist Professor für Cognitive and Brain Sciences an der University of Macau und beschäftigt sich mit den psychologischen Auswirkungen von Social Media.
„Plattformalgorithmen sind zentrale Verstärker für Ragebait. Sie bevorzugen Inhalte, die hohe Interaktionen erzeugen – ganz gleich, ob positiv oder negativ. Polarisierende Posts verlängern die Verweildauer und regen Diskussionen an, was für die Plattformen profitabel ist. Solange Werbeeinnahmen nicht gefährdet sind, haben sie wenig Anreiz, solche Inhalte zu dämpfen.“
Ein Gefühl von Überlegenheit
Hinter dem Erfolg solcher Essensposts steckt aber nicht nur Empörung, sondern auch die Lust der User*innen, sich überlegen zu fühlen. Die Videos landen häufig auf sogenannten Reactionkanälen, also Accounts, die mit eigenen Kommentaren auf solche Clips antworten. Das geschieht oft ganz nach dem Motto: Guckt euch diese Trottel mal an. Die Reaktionen gehen wiederum viral und verbreiten den ursprünglichen Ragebait weiter.
Das Ergebnis ist ein Schneeballeffekt. Immer absurdere Rezepte, immer mehr Reactionvideos – und Plattformen wie Instagram oder Tiktok versinken in einem Strudel aus Rage und Kotzsmileys. Diese Dauerempörung hinterlässt Spuren – selbst bei denen, die gar nicht kommentieren. Eine Studie der Yale University aus dem Jahr 2021 zeigt: Nutzer*innen, die für empörte Kommentare viel Zustimmung erhalten, neigen dazu, immer häufiger im selben wütenden Ton zu kommentieren. Auch stille Mitleser*innen übernehmen langfristig die Sprache und Stimmung ihres Feeds.
Empörung wird zur akzeptierten Norm. Das hat dann wiederum Auswirkungen auf gesellschaftliche und politische Debatten – und das alles wegen eines Nudelsalats im Waschbecken. Da weder Plattformen noch Politik etwas dagegen tun, bleibt für User*innen nur eins: Don’t feed the troll. Denn: Stell dir vor, jemand macht Toiletteneier – und keiner kommentiert.
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