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Internationaler Tag der KinderrechteZwischen Sechsklässlern im Gericht

Im Sozialgericht Berlin verhandeln Kinder den fiktiven Fall einer Gleichaltrigen. Ihr Urteil fällt anders aus als das der erwachsenen Richter*innen.

Kinder sind besonders schützenswert und haben spezielle Rechte Foto: dpa

Der Sicherheitscheck im Sozialgericht Berlin dauert am Dienstagmorgen länger als sonst. Rund 100 Kinder drängeln sich zum Band, um Rucksäcke daraufzulegen und den Metalldetektor zu passieren. Der piept oft, die Kinder gucken verschreckt, die Beamten scherzen. Das Ziel der Kinder: Saal Nummer 113, der schönste und größte des ganzen Gerichts. Hier sollen an diesem Tag vier 6. Klassen nicht nur zusehen, sondern selbst verhandeln.

Es ist der Internationale Tag des Kinderrechts, an dem Unicef und das Sozialgericht zu dieser besonderen Verhandlung einladen. Den Kinderrechtstag gibt es seit 1959, seit 1989 gilt die UN-Kinderrechtskonvention. Diese Konvention gilt allerdings nicht als bindend. Ann-Katrin Fahrenkamp von Unicef erklärt daher, die Kinderrechte müssten unbedingt ins Grundgesetz.

Die Vorsitzende Richterin betritt nun den Saal zusammen mit zwei Ehrenamtlichen. Niemand steht auf. „Wenn sich die Anwesenden dann erheben würden“, sagt die Richterin streng, aber mit einem Augenzwinkern.

Nachgespielt wird ein Fall, den es so ähnlich tatsächlich gab. Die Mutter der elfjährigen Janine verklagt das Jobcenter auf Bildungs- und Teilhabeleistungen: Der Staat soll Janine eine Eishockeyausrüstung und einen Schreibtisch bezahlen. Die zuständige Behörde lehnt das ab, weil sie bereits den Monatsbeitrag des Eishockeyvereins übernimmt.

Wie hätten die Kinder den Fall entschieden?

Der Anwalt des Mädchens, gespielt von einem Richter, sagt dazu: „Janine hat das Gefühl, eine Spielerin zweiter Klasse zu sein, weil sie die einzige ohne eigene Ausrüstung ist.“ Außerdem brauche sie den Schreibtisch für ihr Zimmer, weil es in der Küche mit herumtollenden Geschwistern und kochender Mutter zu laut sei. Der Vertreter der Behörde hingegen verweist auf Verwaltungsvorschriften.

Nach den Plädoyers sind die Kinder dran. In Gruppen diskutieren sie: Wie hätten sie den Fall entschieden? Ein Junge nimmt das Mikrofon in die Hand: „Jedes Kind hat ein Recht auf Gleichbehandlung, und die anderen Kinder haben alle eine Ausrüstung.“ Ein Mädchen pflichtet bei: „Mit Artikel 31 der Konvention gibt es ein Recht auf Freizeit, deswegen sollte der Staat das bezahlen.“ Was den Schreibtisch anbelangt, sind die Kinder uneins. Die meisten plädieren, der Staat solle nur einen Teil der Kosten übernehmen.

Jedes Kind hat ein Recht auf Gleichbehandlung

Schüler in der Verhandlung

Die Richter*innen entscheiden schließlich anders: Schreibtisch ja, Eishockey-Ausrüstung nein. Die Diskrepanz zeigt: Kindern ist die eigene Freizeit heilig.

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4 Kommentare

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  • Das ist sehr interessant! Ich meine nicht nur den Text selbst, sondern auch die Debatte darum.

    Hier wird moralisch unterschieden. Ein und die selbe Zeit wird einmal abwertend „Freizeit“ genannt und einmal aufwertend „Entwicklungszeit“. Das lässt mich ahnen, wie die Erziehung der Textverfasserin und der Kommentator*innen ausgesehen haben könnte.

    Entwicklungszeit war vermutlich die Zeit in ihrem Leben, die Eltern und Lehrer ausgefüllt haben mit An- und Unterweisungen aller Art. Freizeit hingegen war das, worüber Eltern und Lehrer keine Macht hatten. Auch gar nicht haben wollten, weil man sich ja nicht 24/7 ausschließlich mit seinen/fremden Kindern befassen kann.

    Die Kinder selbst haben offenbar ein noch weitgehend intaktes Gefühl für die Unteilbarkeit von Zeit. Sie fühlen anscheinend genau, dass sie zum Gesund-groß-Werden beides brauchen: Positive Anleitung und Unterrichtung durch Leute, die schon mehr Erfahrung haben als sie selbst, aber eben auch eigene, nicht fremd gesteuerte positive Erfahrungen mit bzw. unter Gleichaltrigen. Sie können das nur noch nicht ausdrücken.

    Beim Eishockey kommt offenbar beides zusammen für die Kinder. Für das Gericht war das wohl eher nicht der Fall. Ich nehme an, der/die/das Richter*in ist in einer Zeit bzw. einer Familie groß geworden, in der Autorität alles war – und die freie Persönlichkeitsentwicklung nichts. Muss ein beschwerlicher Weg gewesen sein, der Weg ins Richteramt. Ein ziemlich freudloser dazu. Einer, an dessen Rand Dutzende Schreibtische gestanden haben - und jedenfalls kein einziges Paar Schlittschuhe.

  • Mir scheint es ging den Kindern weniger um ihre Freizeit, als um Teilhabe. Darum, dass sich Kinder aus ärmeren Familien bei gemeinschaftlichen Aktivitäten nicht unterscheiden sollen von jenen, die die notwendige Ausstattung ganz selbstverständlich haben.



    Im Sinne von Chancengerechtigkeit nachvollziehbar, oder?

  • "Kindern ist die eigene Freizeit heilig"

    Vorsicht mit dem Begriff "Freizeit". Das klingt so, als ginge es nur um Spaß und Erholung. Tatsächlich geht es gerade in diesem Fall auch darum, sich Chancen zu erarbeiten, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, Beziehungen zu bilden, gesund aufzuwachsen. Das hat mit "Freizeit" nicht viel zu tun, das ist eher "Entwicklungszeit".

    • @PPaul:

      Sehe ich genau so.