: Gastspielreise zum Mars
Die Zukunft besetzen: Das treibt das inklusive Theater Thikwa in Berlin schon lange an. Zur Feier des 30-jährigen Bestehens brachten sie die szenische Collage „Occupy Future“ heraus
Von Tom Mustroph
Man kann Häuser besetzen. Im Theater werden Rollen besetzt. Das schon immer innovative Theater Thikwa besetzt jetzt die Zukunft. So erklärt Gerd Hartmann, seit zehn Jahren gemeinsam mit Nicole Hummel Co-Chef des kleinen Berliner Theaters und seit 30 Jahren bei Thikwa dabei, den Titel des Jubiläumsstücks.
„Occupy Future“ beginnt mit dem Bau einer Zeitmaschine. Lautmalerisch, im Stile der HipHopper und BeatBoxer, wird dieser Reiseapparat auf dem Zeitstrahl mit Hammer, Bohrmaschine und Spraydose entwickelt. Sechs Rapper der „Zeit-Gang“, eine Frau und fünf Männer, übernehmen den Job. Der Rhythmus überträgt sich sofort aufs Publikum. Dort wird gewippt und genickt, Oberkörper und Köpfe beugen sich. Bei manchen im Publikum geht das Wippen und Nicken auch ohne Rhythmusgeber von der Bühne weiter. Dann dürfte es sich um Jactatio corporis, ein durch kognitive oder motorische Störungen bedingtes monotones Pendeln des Körpers, handeln. Thikwa ist inklusiv, auf der Bühne wie auch jenseits der Bühne. Das bemerkt man schnell.
Die Zukunft, die besetzt wird, ist eine gerechte, eine, die Freiheiten lässt für Entwicklungen. Schlüsselworte wie Freiheit und Gerechtigkeit fallen immer wieder in den einzelnen Szenen. Auch wenn nicht gesprochen wird, wie in der intensiven Tanzszene „Phönix“, so wird doch allein durch den klug von Linda Weißig in eine Choreografie eingebauten Bewegungsdrang das Freiheitsmoment deutlich.
Humor fließt ebenfalls ein. Der Performer Martin Clausen entwickelt mit drei Thikwa-Darstellern, darunter Thorsten Holzapfel, Thikwa-Spieler der ersten Generation, eine Talkshow, in der es um eine Gastspielreise zum Mars geht. Lässig erläutert Holzapfel, wie viel Ausgleichstage er laut Regelungen für Tourneen dann haben müsste. Aber auch das Problem des kosmischen Kulturkolonialismus wird diskutiert, denn menschliche Theaterkunst könnte marsianische Performancetechniken verdrängen. Besetzung kann eben Verdrängung bedeuten.
Der Ort, den das Theater sich in Berlin-Kreuzberg für seine Zukunftsbesetzung auserkoren hat, ist geschichtsträchtig. Das Ziegelsteinmauerwerk des Areals Ohlauer Straße 41 umhüllte vor mehr als 100 Jahren die erste Desinfectionsanstalt Berlins. Damals wurden hier vor allem Möbelstücke und Kleidung desinfiziert, um die Verbreitung von Krankheiten wie Cholera, Diphtherie oder Tuberkulose einzudämmen. Seit zehn Jahren wird das Gelände für kulturelle Zwecke genutzt, unter anderem hat das Theater Expedition Metropolis hier seine Heimstatt.
Jetzt tritt das Thikwa hier auf. Zunächst war es nur eine Notlösung. Größer dimensionierte Open-Air-Projekte etwa auf dem Tempelhofer Feld scheiterten nach Auskunft von Hartmann an der Vielzahl behördlicher Auflagen. Drinnen spielen war angesichts von Corona zumindest für den Sommer keine Option. Zahlreiche Stücke hat das Thikwa während der Pandemie mithilfe eines soliden Hygienekonzepts bereits erprobt und zur Onlinepremiere gebracht. Live vor Publikum spielen ist aber noch etwas anderes als der Livestream vor der Kamera.
Das Spielen im kleinen Innenhof und den Grünanlagen der alten Desinfectionsanstalt hat aber auch seinen Charme. Wegen der Begrenzung auf 50 Plätze herrscht familiäre Atmosphäre. Der Kreis zu den Anfängen ist geschlossen.
Auch der Slogan „Occupy Future“ passt perfekt zur Geschichte des Theaters. Denn das Vorhaben, die Zukunft zu besetzen, kann man rückblickend als Triebkraft von Thikwa bezeichnen. Im fernen Jahr 1990 begann eine Gruppe um Gründerin Christine Vogt, Menschen mit Behinderung aus verschiedenen Werkstätten Berlins um sich zu versammeln und mit ihnen Theaterstücke zu erarbeiten. Gleich die erste Produktion „Im Stehen sitzt es sich besser – Kaspar Hauser Resonanz“ sprengte die institutionellen Grenzen. Spieler*innen mit und ohne Einschränkungen traten gemeinsam auf, Spielort war das Studio des Maxim Gorki Theaters. Den Mitschnitt aus dem Jahr 1990 kann man inzwischen auf Vimeo sehen, dank der verstärkten Onlineaktivitäten der Theater im Lockdown. Auffällig ist dort schon die Bedeutung von Bewegung und Musik, das rhythmische Gefüge, in das Körper und Stimmen gebracht werden. Ebenso auffällig die chorischen Momente. Die Vielzahl an Darsteller*innen führt zu gefüllten Bühnenräumen, zu einem Wogen der Körper in einer Kunstform, die aufgrund von Einsparungen auf immer kleiner werdenden Ensembles zurückgreifen muss.
Das Thikwa hingegen kann zumindest personell aus dem Vollen schöpfen. Dreiundvierzig Ensemble-Mitglieder sind am Thikwa beschäftigt. Spielen und proben sie nicht, arbeiten sie in den künstlerischen Werkstätten. Die haben inzwischen einen eigenen Ruf. Thorsten Holzapfel, Performer auch bei „Occupy Future“, holte Preise für seine bildnerischen Arbeiten.
Die Werkstätten schaffen finanzielle und organisatorische Sicherheit für das Ensemble. „Im Alltag ist die Zusammenarbeit zwischen dem Theater und dem Regelbetrieb Werkstatt aber nicht immer einfach“, sagt Co-Chefin Hummel der taz. Dass Darsteller*innen mit körperlichen Einschränkungen komplett von ihrer künstlerischen Arbeit leben können, ist gegenwärtig sehr selten. In Einzelfällen wurden sie in städtische Ensembles verpflichtet. Für 43 Künstler*innen ist dies aber nicht zu stemmen. Deshalb ist die Konstruktion aus Theater und Werkstatt dann eben doch ein gutes Fundament.
Für das Thikwa hat sich in den 30 Jahren seines Bestehens vor allem die Akzeptanz von inklusivem Theater geändert. „Früher mussten wir bei Kooperationspartnern anfragen. Jetzt fragen die großen Theater uns“, sagt Hartmann.
Ungewohnte Realitäten
Verantwortlich dafür ist auch die ästhetische Qualität des Thikwa. Die Produktionen dringen in Fantasieräume vor und kreieren ungewohnte Realitäten. Hartmann ist selbst immer wieder erstaunt, wie schnell die Darsteller*innen auf den Proben Stücke entwerfen. „Bei der allerersten Probe zu unserem Beitrag beim Festival ‚Berlin is not am Ring‘ am kommenden Wochenende in der Fahrbereitschaft Lichtenberg sind bereits 50 Prozent der ganzen Szene entstanden“, erzählt Hartmann. Sind Darsteller*innen mit Behinderung gar die talentierteren Künstler*innen, weil sie sich möglicherweise mehr trauen? „Nein, es gibt keinen heiligen Behinderten“, winkt Hartmann lachend ab. Aber in neue, andere, faszinierende Fantasieräume werde man durch sie doch geführt, meint der Regisseur.
Die Arbeit des Thikwa wird mittlerweile auch im Ausland geschätzt. In Russland erhielt die Produktion „Entfernte Nähe“, die Hartmann mit einem Ensemble russischer Darsteller*innen mit Behinderung entwickelte, den Theater-Oscar „Goldene Maske“. Durch den Impuls des Thikwa erhielt auch das inklusive Theater in Russland insgesamt einen Schub. „Man bemerkt den Bewusstseinswandel schon an Kleinigkeiten. Bei einem frühen Gastspiel in Sankt Petersburg rümpften dortige Schauspieler noch die Nase, als unsere Thikwas dort auf der großen Bühne auftraten. Und am Flughafen wurden wir gefragt, wo wir mit ‚unseren Kindern‘ denn hinwollen. Inzwischen werden unsere Spieler*innen als Menschen und als Künstler*innen ernst genommen“, erzählt Hummel.
Die Reiseerfahrungen nicht nur in Russland flossen dann auch ein in den fiktionalen Gastspieltrip auf den Mars in „Occupy Future“. Mal sehen, was die Zukunft noch so bereithält für dieses ungewöhnliche Theater.
Nächste Termine: 20.–22. August spielt Thikwa im Rahmen von Berlin is not am Ring „So why. Suchen nach Siegfried“.
Am 1. September hat ihr Stück „Merkel“ Premiere.
Mehr unter www.thikwa.de
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