Indigene in Kanada: Die Kinder aus der Backsteinschule

Kanadas Premier Trudeau ist erschüttert über die jüngsten Leichenfunde in früheren Indigenen-Internaten. Die Ex-Schüler wissen davon schon immer.

Ein Backsteingebäude - davor auf einer Iwiese Kinderschuhe und Spielzeug neben kleinen Lämpchen zum Gedenken an die Opfer

Auf dem Gelände dieses früheren Indigenen-Internats wurden die Überreste von 215 Kindern gefunden Foto: Dennis Owen/reuters

CRANBROOK taz | Seit in der vergangenen Woche die Überreste von 215 Kindern auf dem Gelände eines ehemaligen Internats für Kinder von Ureinwohnern entdeckt wurden, ist das Thema wieder da. Premierminister Justin Trudeau zeigt sich erschüttert und kündigt „konkrete Schritte“ zur Unterstützung der indigenen Bevölkerung an. Das Abtragen von weiteren Schulfriedhöfen in Kanada, wie es von vielen gefordert wurde, sei „ein wichtiger Schritt, um die Wahrheit zu erkunden“, sagte Trudeau am Montag und sicherte den indigenen Gemeinschaften Unterstützung zu, „während wir das Ausmaß dieses Traumas aufdecken“.

„Das tragische Erbe der Internate ist noch heute präsent“, sagte Trudeau.

Für Gordie Sebastien war das noch nie anders. Er wird seinen ersten Schultag nie vergessen. Sebastien ist fünf Jahre alt, als ihn seine Großmutter vor einem hohen Eisentor absetzt. Ein letzter Gruß, ein letztes Händedrücken, eine kurze Umarmung, dann verschwindet Sebastien in einem mächtigen Backsteinbau mit einem Glockenturm und einem Kreuz auf dem Dach.

Drinnen muss er sich splitternackt ausziehen. Dann schert ein Helfer sein dunkelblondes Haar und überschüttet ihn mit Desinfektionsmittel. Sebastien ruft nach seiner Oma. Die aber darf nicht zu ihm.

Die indigene Kultur und Sprache sollte genommen werden

Über ein halbes Jahrhundert ist das her, aber Sebastien schildert es so lebhaft, als sei es gestern gewesen: „Es war so entwürdigend. Vom ersten Tag an haben sie uns systematisch erniedrigt, geschlagen und misshandelt.“

Sebastien gehört zum Volk der Ktunaxa, einem indigenen Volk aus Kanada. Von 1957 bis 1968 mußte er ein spezielles Internat für Ureinwohner besuchen, wie viele indigene Kinder zu dieser Zeit. Die „St. Eugene Mission Residential School“ im St. Mary's Reservat in Britisch-Kolumbien war ein solches: Betrieben von der Kirche, eingerichtet und finanziert vom Staat.

In „Residential Schools“ wurde den Ureinwohnern nicht nur das Lesen und Rechnen gelehrt. Den Kindern sollte dort auch früh ihre indigene Kultur und Sprache genommen werden, um sie in die weiße Gesellschaft zu assimilieren. Über ein Jahrhundert lang war das in Kanada gängige Praxis. Das letzte Indigenen-Internat schloß 1996. Etwa 150.000 Schüler mussten die Klassen besuchen, etwa 60.000 sind noch am Leben.

Gordie Sebastien ist einer von ihnen. Er ist heute über sechzig und steht wie einst vor dem Eisentor zum Schulgelände. Er trägt eine Baseballmütze, eine Fleecejacke und eine Jeans. Seine ehemalige Schule wurde 1970 geschlossen, das Gebäude aber steht noch.

Auf ein Lachen folgten Prügel des Lehrers

Viele Jahrzehnte lang kam es in der Backsteinschule zu schlimmen Szenen: körperlicher und seelischer Gewalt, Misshandlungen, sexuellem Missbrauch, Todesfällen gar. Als Sebastien darüber erzählt, stockt ihm immer wieder seine Stimme. Trotzdem schildert er das Geschehene offen. Manches davon hat er selbst erlebt, manches beobachtet. Manchmal bleibt es unklar.

Sebastien war neun Jahre alt, als er im Unterricht einmal lachen musste. Ein Versehen nur, doch es hatte Folgen. Ein Lehrer verprügelte ihn mit einem Lederriemen. Später wurde er von einem Helfer die Treppe heruntergestoßen.

„Man hat den Indianer gewaltsam aus mir herausgeprügelt“, meint Sebastien. Die eigene Muttersprache war ihm untersagt. Kontakt zu den Eltern oder Großeltern war unerwünscht. Sie durften ihre Kinder nur einmal im Monat besuchen.

Am schlimmsten war die körperliche und seelische Gewalt. Ein Mitschüler wurde einmal so sehr gezüchtigt, dass er zwei Wochen lang mit gebrochenen Knochen im Bett liegen bleiben mußte. Erst als die Prellungen und Blutergüße verheilt waren, durfte er ins Krankenhaus. Ein anderer wurde zwei Tage lang nackt in einen Kleiderschrank gesperrt.

Über 6.000 Kinder starben in den Internaten

Sebastien erinnert sich auch an Vorfälle sexueller Gewalt. Ausführlich will er nicht darüber sprechen. Nur so viel will er berichten: „Wir alle kannten Opfer, Mädchen und Jungen. Manchmal sind wir stundenlang mit ihnen auf der Treppe gesessen, um sie zu trösten. Mehr konnten wir nicht tun.“

Auch Tote gab es. Laut Schätzungen starben in den Indigenen-Internaten insgesamt mehr als 6.000 Kinder, die meisten von ihnen an Krankheiten wie Tuberkulose. Manche starben auch an den Folgen der Gewalt, Fehlernährung oder Einsamkeit und wurden zum Teil anonym in Gräbern auf dem Schulgelände verscharrt.

Nicht wenige Opfer, die überlebten, nahmen sie sich später aus Scham und Angst das Leben. „Jeden Tag wurde uns eingehämmert, wie schlecht wir sind, und nach einer Weile haben wir es tatsächlich geglaubt“, sagt Sebastien.

Eine staatliche Wahrheits- und Versöhnungskommission hat die Vorfälle dokumentiert und Treffen organisiert, bei denen Opfer das Erlebte schildern können. In ihrem Abschlussbericht 2015 nannte die Kommission die Vorfälle „kulturellen Völkermord“. Die Regierung hat sich offiziell entschuldigt und Entschädigungen gezahlt. Auch der Papst hat die Vorfälle bedauert. Trotzdem gibt es in den meisten indigenen Gemeinden bis heute mehr Selbstmorde, kriminelle Vorfälle und Drogenprobleme als im Rest Kanadas.

Die Schule von einst ist heute ein Hotel

Auch im St.-Mary's-Reservat haben sie lange diskutiert, wie es weitergehen soll, vor allem mit dem alten Schulgebäude. Irgendwann hatte es der Staat in die Obhut der Ktunaxa übergeben und lange stellten sie sich die Frage: Wie sollten sie umgehen mit dem Ort der Schande?

Die Frage hat auch Sophie Pierre umgetrieben. Pierre war neun Jahre lang Schülerin im Internat und wurde später Häuptling ihres Stamms. Heute ist sie über siebzig. Pierre schließt das Gebäude auf und sagt: „Viele von uns wollten das Gebäude abreißen. Wir wollten den Schmerz tilgen, ein für alle Mal. Am Ende aber haben wir uns entschieden, es doch stehen zu lassen.“

Als Pierre die Türe öffnet, eilt drinnen gerade eine Kellnerin über den Gang. An einer Rezeption steht eine Frau und sortiert Karteikarten. An den Backsteinwänden hängen sauber gerahmte Schwarzweiß-Fotos von einst: Indigene Kinder bei der Osterprozession, beim Schulsport, in Schuluniform.

Aus der Schule von einst ist ein Hotel geworden. Die Schlafsäle von früher sind heute Gästezimmer. Die Kapelle mit dem Kirchenfenster ist ein Bankettsaal. Wo einst indigene Kinder verprügelt und vergewaltigt wurden, erholten sich heute Touristen. Pierre erzählt, dass ihr Volk zwei Jahre lang darüber diskutiert hat, erst dann war der Konsens da. „Man kann die Erinnerung nicht einfach abreißen“, ist sie überzeugt.

Nebenbei haben in dem Hotel 50 Angehörige der Ktunaxa einen Job gefunden. Auch Gordie Sebastien, der hier einst seine dunkelblonden Haare lassen mußte. Er arbeitet heute als Nachtwächter und sagt, das Hotel helfe ihm auf seinem Weg der Heilung. „Es fällt mir leichter, die schlimme Vergangenheit zu verkraften, wenn ich weiß, dass das Gebäude erhalten und die Geschichte der Internate somit nicht vergessen wird.“

Es ist neun Uhr abends und Sebastien geht auf seinen Kontrollgang. „Ich bin stolz, dass wir hier etwas Schreckliches in etwas Schönes verwandelt haben“, sagt er. In der Lobby hängt ein Messingschild, darauf das Motto des Stamms: „In diesem Gebäude wurde uns unsere Kultur geraubt. Nur in diesem Gebäude können wir sie zurückerlangen.“

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