Impfgegner gegen die Demokratie: Freiheit als Ersatzmythos

Impfgegner pochen auf individuelle Freiheit und wähnen die Demokratie am Ende. Doch nebst der Irrationalität sind sie auch ein Symptom für etwas.

Impfgegner auf einer Demo in Wien halten Schilder hoch

Freiheit gegen Diktatur – das ist das Framing der Impfgegner, hier bei der großen Demo in Wien Foto: picture alliance/dpa/APA/Florian Wieser

Die Pandemie samt ihren „Querdenkern“ wirft auch die Frage auf: Was ist Demokratie heute? Demokratie ist eine Regierungsform: mit ihren Verfahren, Institutionen, Regeln. Das ist ihre Realität. Sie braucht aber noch etwas anderes: einen Glauben. Den Glauben an Souveränität, an Legitimität, an Gerechtigkeit. Dieser Glaube ist der Mythos der Demokratie. Das ist kein falscher Mythos, den es aufzuklären gilt, sondern ein Mythos, der sie stützt. Demokratie ist Realität und Mythos zugleich.

Demokratie ist heute einer der zentralen Mythen. Sie ist unantastbar. Unantastbar aber ist das, was einer Gesellschaft heilig ist. Demokratie ist der Horizont unserer Moral – sie bestimmt unsere Werteskala zwischen demokratisch und undemokratisch. Sie ist unsere Formel für Recht, für Ordnung. Demokratie ist unsere Beschwörungsformel für alles Gute.

Man könnte auch sagen: Die Rede von der Demokratie ist unser Fetisch. Gleichzeitig aber gibt es den ständigen, den drängenden Chor jener, die uns zurufen: Die Souveränität des Volkes ist entleert. Dieser Inbegriff unserer Gesellschaft wird immer blasser. Vage. Unbestimmt. Eine leere Formel, eine leeres Zeichen.

Also was nun – ausgehöhlte Form oder Heiligtum? Oder gar: Heilig, weil sie leer ist? Dann aber wäre Demokratie nur eine tote Form.

Nur noch individuelle Freiheit

Tatsächlich wird um ihre Bedeutung gerungen. Diese ist also veränderbar. Und genau das zeigt sich derzeit: Die Bedeutung des demokratischen Mythos hat sich verändert. Denn dieser meint heute: individuelle Freiheit. Das ist keine Entleerung. Es ist vielmehr ein Ersatz-Mythos. Demokratie meint heute nicht mehr den Glauben an Gleichheit oder an Volkssouveränität, sondern meint nur noch den Glauben an individuelle Freiheit.

Individuelle Freiheit ohne das Versprechen einer Herrschaft des Volkes, ohne die Vorstellung einer Selbstgesetzgebung. In den Konzepten einer kollektiven Macht findet man sich nicht wieder. In der individuellen Freiheit schon. Demokratie wird zu einem Kurzschluss zwischen dem Ich und einem imaginären Demos. Wir glauben an die Demokratie als Gütesiegel unserer individuellen Freiheit. Sie ist es, die wir beschwören.

Die Pandemie hat das Politische verändert. Sie hat eine sichtbare Rückkehr des Staates mit seiner Entscheidungsgewalt gebracht. Aber Entscheidung ist immer der Kern des Politischen. Sie ist nicht die Fratze der Demokratie, sondern deren Grundlage. Üblicherweise ist sie eine gezähmte Entscheidungsgewalt. In der Pandemie aber trat diese blank in Erscheinung.

Ein Credo der Neoliberalen besagt, dass die politischen Verhältnisse nicht von allen getragen werden müssen. Aber dieses liberale Konzept versagt bei einem Totalereignis wie einer Pandemie. Denn genau da treten jene auf den Plan, die die politischen Verhältnisse nicht mittragen: die „Querdenker“, die Impfgegner. Hier soll es nicht um deren Irrationalitäten gehen, sondern darum, dass sie noch etwas anderes sind, jedenfalls dort, wo sie über den Rechtsextremismus hinausgehen: nämlich ein Symptom.

Demokratie gegen Diktatur

Sie treten im Namen der Demokratie auf gegen das, was sie eine „Diktatur“ nennen – eben weil der Staat derart sichtbar geworden ist. Weil sich dessen Entscheidungsgewalt in Vorschriften so deutlich manifestiert. So werden Masken und Impfungen zum verhassten Inbegriff dieser Gewalt, die in ihren Augen nicht demokratisch sein kann. Warum? Weil diese Entscheidungsgewalt eben den demokratischen Mythos antastet: die individuelle Freiheit.

Der organisatorische, der medizinische Umgang mit einem Naturereignis ist das eine, der politische Umgang damit ist etwas anderes. Die „Querdenker“ zeigen unbeabsichtigt: Undemokratisch sind die Maßnahmen nicht im politischen, sondern im mythologischen Sinn. Weil sie den Mythos der individuellen Freiheit verletzen.

Die „Querdenker“ lehnen die Realität der demokratischen Praxis im Namen des demokratischen Mythos ab. Und genau da werden sie zum gesellschaftlichen Symptom. Ein Symptom bringt eine Wahrheit in verzerrter Form zum Ausdruck: Dass nämlich demokratische Realität und demokratischer Mythos kollidieren. Dass sie nicht mehr übereinstimmen.

In verzerrter Form zeigt sich hier: Die neue ­Realität staatlicher Entscheidungsgewalt und der Mythos von der individuellen Freiheit driften auseinander.

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