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Imperialistische Bestrebungen der TürkeiAnkara auf Expansionskurs

Gastkommentar von Joseph Croitoru

Die Türkei macht Ernst mit Ansprüchen auf frühere Gebiete des Osmanischen Reichs. Besonders deutlich werden die Großmachtvisionen in Nordsyrien.

Herrscher mit Expansionsallüren: Erdoğan wünscht sich das Osmanische Reich zurück Foto: Turkish Presidency/ap

D er von der Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan propagierte Neo­osmanismus erschöpft sich schon lange nicht mehr nur in Rhetorik. In etlichen ehemaligen Territorien des Osmanischen Reichs, das von der türkischen Regierung auch im Rückgriff auf die Seldschuken-Ära glorifiziert wird, ist die Türkei wieder mehr oder weniger direkt präsent.

Nach Nordzypern, ehemals osmanisches Gebiet, entsandte sie 1974 Militärkräfte, die bis heute den international nicht anerkannten Marionettenstaat „Türkische Republik Nordzypern“ stützen. Dass eine Wiedervereinigung der geteilten Insel nicht mehr infrage kommt, ließ Erdoğan bereits im vergangenen November wissen, als er die nordzyprische, einst überwiegend von Zyperngriechen bewohnte Küstensiedlung Varosha besuchte.

Anders als Zypern liegt Nordsyrien, ebenfalls früheres osmanisches Herrschaftsgebiet, direkt vor der Haustür der Türkei. Hier werden die türkischen Ansprüche noch aggressiver durchgesetzt. Seit 2016 hat Ankara in mehreren Mili­tär­ope­ra­tio­nen der IS-Miliz und vor allem der als „Terroristen“-Nest gebrandmarkten Kurden-Autonomie Gebiete entrissen und dort seine syrischen Vasallen aus den Reihen der Anti-Assad-Rebellen installiert.

Die von ihnen aufgestellte „Syrische Übergangsregierung“ (SIG) war im März 2013 in Istanbul gegründet worden und hatte ihren Sitz zunächst in der südtürkischen Stadt Gaziantep, bis sie in die nordsyrische Stadt Azaz verlegt wurde. Ihren offiziellen Verlautbarungen zufolge regiert die SIG über einen eigenen Staat, die „Arabische Syrische Republik“. Mit der Namenswahl wird unmissverständlich Anspruch auf das Gebiet des von Assad beherrschten gleichnamigen syrischen Staats erhoben.

Joseph Croitoru

geboren 1960 in Haifa, ist Historiker, Journalist und Autor von Büchern, darunter „Die ­Deutschen und der Orient“, Hanser Verlag 2018. Zuletzt erschien im Februar „Al-Aqsa oder Tempelberg – Der ewige Kampf um Jerusalems heilige Stätten“ im Verlag C. H.Beck.

Freilich zeigt sich der SIG-Staat gleichzeitig als Geschöpf der Türkei, worauf bereits die allgegenwärtige Zweisprachigkeit von Arabisch und Türkisch hinweist. An den Rathäusern prangen – häufig von der türkischen und der SIG-Fahne flankiert – Schilder in arabischer und türkischer Sprache, so auch an anderen Amtsgebäuden, Schulen und Jugendklubs. Zweisprachig sind auch die dort ausgestellten Personalausweise.

Religionsunterricht für Geflüchtete

Strom, Telekommunikation, die Währung sowie das Banken- und Postsystem kommen in den SIG-Gebieten aus der Türkei. Für den zügig vorangetriebenen Ausbau der Infrastruktur sorgen türkische Baufirmen und religiöse Wohlfahrtsorganisationen. In der Türkei wird diese paternalistische Einflussnahme als „Hilfe für die syrischen Brüder“ apostrophiert.

Ihr erklärtes Ziel ist, geflüchtete, vor allem arabisch-sunnitische Syrer in den besetzten Grenzgebieten anzusiedeln – wohlgemerkt bei gleichzeitiger Vertreibung und Umsiedlung ansässiger Kurden und Jesiden. Und die sollen ganz offensichtlich im Sinne der Religionspolitik der AKP-Regierung erzogen werden. Mit direkter türkischer Unterstützung werden in den SIG-Gebieten immer mehr Moscheen restauriert oder auch neu gebaut.

Die religiösen Einrichtungen werden vom türkischen Diyanet finanziert und übernehmen, wie in der Türkei, auch die religiöse Volkserziehung. Aus seinen medialen Selbstinszenierungen im Internet wird ersichtlich, dass der unter türkischer Ägide im Aufbau befindliche militärische Arm der SIG, die „Syrische Nationale Armee“ (SNA), im Geist des Islamismus und Neoosmanismus der AKP indoktriniert wird.

Die SNA setzt sich aus der einst säkularen, später islamistisch geprägten „Freien Syrischen Armee“ und der 2018 in Nordsyrien von gleichgesinnten Milizen gebildeten „Nationalen Befreiungsfront“ zusammen. In den letzten Jahren sind etliche neue SNA-Einheiten hinzugekommen, die häufig nach seldschukischen und osmanischen Herrschern – etwa Sultan Mehmed II., dem Eroberer Konstantinopels – benannt sind.

Vorbild sind Kalifen und Sultane

Für eine neoosmanisch gefärbte ideologische Schulung auch des größeren, des arabischen Teils der SNA, die auf die „Befreiung“ des restlichen Syrien von den „Feinden Allahs“ – die „terroristische“ PKK und das „verbrecherische“ Assad-Regime – eingeschworen wird, sorgt der Chef der SNA-„Direktion für moralische Führung“, Hassan al-Daghim, höchstselbst.

In seinen Ansprachen vor Soldaten stellt er den Befreiungskampf in eine Linie mit den Eroberungskriegen muslimischer Herrscher – von den Weggefährten Mohammeds über die arabischen Kalifen bis hin zu den seldschukischen und osmanischen Sultanen. Auch deren jahrhundertelange Besetzung europäischen Bodens wird von al-Daghim lobend in Erinnerung gerufen. An seiner Personalie wird die ideologische Stoßrichtung des militärpolitischen türkisch-syrischen Unternehmens besonders offenbar.

Der 1976 in Nordsyrien geborene Hassan al-Daghim absolvierte im Sudan und in Damaskus ein Scharia-Studium und war als Imam tätig, bevor er sich den islamistischen syrischen Rebellen anschloss und an der Gründung von Scharia-Gerichten in ihren nordsyrischen Operationsgebieten mitwirkte. Er ist auch Mitglied des 2014 in Istanbul gebildeten oppositionellen „Syrischen Islamischen Rats“ und somit ein Scharnier zwischen der SNA und diesem islamistischen Gelehrtenrat.

Er beansprucht für sich nicht weniger als die geistige Führung des Oppositionslagers wie auch der syrischen Flüchtlinge in der Region – und wird dabei vom türkischen Diyanet unterstützt. Nun könnte man darüber debattieren, ob das SIG-Staatswesen ein verkapptes türkisches Protektorat, ein „sanftes“ Kolonialprojekt oder schlicht ein Marionettenstaat der Türkei ist. Doch dies scheint bislang auch nicht im Ansatz geschehen zu sein.

In westlichen Medien wird Erdoğans Neoosmanismus jedenfalls oft als Ausdruck von Großmachtfantasien belächelt, die sich in Sultansnostalgie und Geschichtsmaskeraden erschöpfen. Doch seine Umsetzung in knallharte Geopolitik hat längst begonnen und sollte endlich ernst genommen werden. Kritische Fragen an Ankara, gerade auch vonseiten seiner europäischen Gesprächspartner, sind überfällig.

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13 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Merkwürdig - die Türkei ist in der NATO und macht was sie will.

  • Die Türkei ist aber immer noch NATO Mitglied. Angeblich steht die NATO für Freiheit, Demokratie und Völkerecht.

    Soll man da lachen oder heulen?

  • Sein Vorbild: Zar Vladimir! Allerdings ist sein Reich glücklicherweise viel zu klein um solchen Einfluss zu haben. Aber Mit Vladis Einverständnis wäre er doch fähig, den derzeitigen Staatsgebiet von Syrien etwas abzuzwacken.

    Wenn die derzeitige Kanzlerin nicht mehr im Amt sein wird, besteht vielleicht eine Hoffnung, dass auch Deutschland sich nicht mehr Maßnahmen gegen den türkischen Autokraten widersetzt.

    Wussten sie, dass der auf dem Weg zum Diktator befindliche Sultan eigentlich nach der türkischen Verfassung illegal im Amt ist. Denn diese schreibt eigentlich vor, dass der Präsident einen akademischen Abschluss haben muss. Erdo hat aber nichts dergleichen vorzuweisen.

  • Dazu mal folgendes Gedankenspiel: Um das neue Osmanische Reich wirklich größer zu machen, müssten die Gebiete ja in absehbarer Zeit der Türkei beitreten. Grundlage dafür wäre vermutlich ein dort durchgeführtes Referendum. Als Reaktion auf diesen Eingriff in die territoriale Integrität Syriens, schlägt sich Putin, obwohl er auch Interessen in der Türkei hat, auf die Seite Assads. Es wäre gewissermaßen das Szenario der Krim-Annexion unter umgekehrten Vorzeichen, entsprechend wäre die syrisch-russische Koalition hier völkerrechtlich sogar eher im Recht. Anders als bei bisherigen Eskalationen in die idR auf mindestens einer Seite 'nur' Stellvertreter-Milizen involviert waren kommt es nun auch zur unmittelbaren Konfrontation zwischen russischen und türkischen Truppen. Eine diplomatische Lösung scheitert am Stolz der beiden präsidialen Autokraten und Erdogan ruft in der Folge den NATO-Bündnisfall aus.



    Zugegebenermaßen ist eine solche Entwicklung sicher nicht das wahrscheinlichste Szenario, aber eben auch alles andere als unmöglich. Deshalb braucht es weit mehr als "[k]ritische Fragen an Ankara", sondern konkrete Maßnahmen um den Westen auf ebenso große Distanz zum Möchtegern-Sultan wie zum Möchtegern-Zar zu bringen.

    • @Ingo Bernable:

      Bis zum Punkt des Bündnisfalles, ausgerufen von Erdogan, finde ich das Szenario gar nicht so unplausibel.

      Die Frage, ob man Russland, aufgrund plötzlich aufgetretener moralischer Bedenken, in so einem Szenario schneidet ist fraglich und der Sinn dahinter auch. Eine konsequent auf Werten beruhende Geostrategie wäre, wunderbar, die Willkür hinter so einer Haltung mit Distanzen, aufgeladen durch den alten antislawischen Rassismus ist nichts als Heuchelei und Selbstgefälligkeit.

      • @Hampelstielz:

        Sich von Putins Politik zu Distanzieren ist "antislawische[r] Rassismus"? Wie kommt es dann, dass andere post-sowjetische, "slawische" Staaten die den 89 eingeschlagenen Weg zur Demokratie konsequenter beschritten haben als Russland längst in EU und NATO sind?

        • @Ingo Bernable:

          Sich von Putin zu distanzieren ist irgendwo logisch, doch müsste man sich auch von Chinas XI Jingping distanzieren, von den Nationalisten Indiens, grundsätzlich von der us-amerikanischen außenpolitischen Dauerscharade usw.



          Die Fokusierung auf Russland hat einen Hintergrund und das ist das Bild vom "Ivan", das man als Feindbild hegt und pflegt, aktuelle Lage und Regierung dabei zweitrangig.



          Du meinst mit deinen Beispielstaaten solche wie Polen, Ukraine und Weißrussland? Wenn man nach dem Motto "Des Feindes Feind ist mein Freund" verfährt, nimmt man auch einen kleinen Bruch in der unsinnigen Logik des Rassismus hin.

          Letztendlich wäre in deinem Szenario Russland eine Art Pattgarant und die westliche Hemisphäre durch NATO-Bündnis, Gleichgültigkeit und/oder gezielte Destabilisierung vorher lang unterstützter Nachbarstaaten und Diktaturen der Steigbügelhalter des türkischen Faschismus.

          Im Grunde will ich nur auf den Unsinn hinweisen, staatliche Akteure auf geostrategischer Ebene ständig als moralische Instanzen zu benennen. Sind sie nicht, waren sie nie und werden es wohl niemals sein.

          • @Hampelstielz:

            "Sich von Putin zu distanzieren ist irgendwo logisch, doch müsste man sich auch von Chinas XI Jingping distanzieren, von den Nationalisten Indiens, grundsätzlich von der us-amerikanischen außenpolitischen Dauerscharade usw."



            Ich empfinde dieses automatische "Aber die Andern machens doch auch"-Argument, dass einem aber auch wirklich jedes Mal entgegengehalten wird wenn man Kritik an Putins Russland übt einfach nur noch ermüdend. 1.) Ja, natürlich, sind auch die von ihnen aufgezählten Staaten ebenfalls mehr oder weniger kritikwürdig, genauso wie letztlich jede auf Herrschaft angelegte Institution. Dennoch macht es absolut keinen Sinn das einfach alles so völlig undifferenziert in einen Topf zu werfen. 2.) Selbst wenn man nicht in der Lage oder Willens ist Unterschiede zwischen den Defiziten der US-amerikanischen und der russischen Demokratie und Politik zu erkennen, ist das vermeintliche Ausbleiben angebrachter Kritik an der einen Seite noch längst kein Grund angebrachte Kritik an der anderen Seite ebenfalls zu unterlassen.



            Da Ukraine und Belarus weder NATO noch EU angehören habe ich sie offensichtlich nicht gemeint.



            Und natürlich sind Staaten keine rein "moralische[n] Instanzen". Sich von einer zunehmend offensiver agierenden Türkei auf Distanz zu bringen lässt sich aber auch völlig problemlos strategisch und zweckrational begründen. Gleichzeitig sollte man Staaten aber auch nicht als rein geostrategisch determinierte Machtmaschinen betrachten, letztlich sind da immer Menschen am Werk und seit den Zeiten von Clausewitz oder auch Schmidt hat sich eben doch auch einiges verändert und es finden sich mehr als genug Vorgänge auf internationaler Bühne die sich mit Hard Power gar nicht oder nur unzureichend erklären lassen.

        • 9G
          97287 (Profil gelöscht)
          @Ingo Bernable:

          Weil weder die Franzosen noch die Deutschen, Polen und Ukrainer vergeben können und vergessen, dass sie die Kriege gegen Russland verloren haben. Das erklärt auch die Sympathie gegenüber Erdogan.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Ingo Bernable:

      Er kann das anfragen, aber die NATO Mehrheit würde sich nicht hinter ihn stellen, viel gefährlicher wäre stattdessen ein NATO Austritt der Türkei und ein Bündnis Türkei+Russland, dies würde die konventionelle Bedrohungslage Europas massiv verschärfen.

      • @83379 (Profil gelöscht):

        Eine russisch-türkische Allianz scheint mir auf absehbare Zeit als nahezu ausgeschlossen. Russland hat zwar in der Türkei vA wirtschaftliche Interessen (Rüstung, Reaktortechnologie), strategisch stehen sie aber praktisch in allen dafür relevanten Konflikten (Syrien, Libyen, Berg Karabach, Ukraine) auf gegensätzlichen Seiten.

  • "knallharte Geopolitik" viel verharmlosender kann man einen Überfall auf ein Nachbarland kaum nennen.



    Ich würde es einfach Angriffskrieg nennen.

  • Kritische Fragen an Ankara?

    Dafür hat frauman hierzulande viel zu viel Angst vor den Rotznasen von Pegida.