Eine vollgekritzelte Beton-Brücke führt zu hohen Häusern aus dreckig-schwarzem Beton.

Ein Stadtteil aus Beton: das Ihme-Zentrum im Herzen Hannovers Foto: Christian Wyrwa

Ihme-Zentrum in Hannover:Der geborstene Gigant

Investor Lars Windhorst lässt das Ihme-Zentrum in Hannover weiter verfallen. Nun zieht die Stadt als Mieterin aus. Wer kann den Koloss noch retten?

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4.4.2023, 15:00  Uhr

Nun hat also selbst die Stadt Hannover die Geduld verloren: Sie kündigt ihre Mietverträge, zieht ihre Büros leer, dreht dem aktuellen Investor Lars Windhorst den Geldhahn zu. 2,5 Millionen Euro hätten sie eigentlich in den nächsten 20 Jahren jedes Jahr zahlen sollen. Doch dazu hätte es bei der Sanierung des Ihme-Zentrums einen sichtbaren Fortschritt geben müssen.

Das Ihme-Zentrum in Hannover ist alles Mögliche: ein Lost Place und Abenteuerspielplatz, eine perfekte Kulisse für Tatortdrehs, ein Denkmal für städteplanerischen Größenwahn, ein Tummelplatz für Kreative, ein Elends- und ein Nobelviertel, ein Mahnmal für den Irrglauben an den Wunder-Investor, ein Schandfleck für die einen und ein geliebtes Betonnest für die anderen, ein Drama mit unendlich vielen Akten.

Natürlich gibt es das in vielen Städten: irgend so ein Multifunktionsdings aus Shopping-Mall plus Arztpraxen und Büros plus Wohnungen, das schon lange nicht mehr recht funktioniert und von einem Investor an den nächsten verscherbelt wird. Aber nirgendwo hat das so gigantische Ausmaße wie in Hannover.

Hier ist das ein kleiner Stadtteil in privaten Händen, der vor sich hinrottet, mitten im Herzen der Stadt. 550 Meter lang schlängelt sich der Komplex am Fluss entlang. Heimat für immer noch circa 1.500 Menschen, von den 806 Wohnungen steht kaum eine lange leer. Nur das Sockelgeschoss, die zweistöckige Tiefgarage und die Ladenpassage, die sich durch den kompletten Komplex zieht, bröckeln vor sich hin.

Pfeiler mit einer Deckenkonstruktion stehen auf einer schmutzigen Betonfläche

Jahrelanger Abstieg: die Investoren kamen, taten nichts, gingen wieder Foto: Christian Wyrwa

Es sieht ein bisschen aus wie ein Raumschiff, dem beim Aufsetzen die Unterseite kaputt gegangen ist. Es gibt einzelne Stellen, da sieht es aus wie nach einem Bürgerkrieg oder in Beirut nach der Explosion im Hafen. Geborstene, abgebrochene Betonkanten, aus denen vor sich hinrostende Eisenträger ragen, bedeckt von Taubendreck.

Das Raumschiffartige gehört allerdings zum Plan. Als „Stadt in der Stadt“ war das Ganze in den 60er-Jahren konzipiert worden, die Grundsteinlegung erfolgte 1971. So stellte man sich damals die Stadt der Zukunft vor. Im Grunde sollte man als Bewohner mit dem Auto in die Tiefgarage fahren und den Komplex dann lange nicht mehr verlassen müssen. Leben, wohnen, arbeiten, einkaufen – alles sollte hier stattfinden, fußläufig erreichbar sein, hochverdichtet wie es im Stadtplanersprech hieß.

Und eine Zeit lang sah es tatsächlich so aus, als könnte das funktionieren. Von den Eigentumswohnungen war die Hälfte schon verkauft, bevor sie gebaut waren. Große Ankermieter wie Kaufhof, Huma und Saturn-Hansa lockten viele Menschen in die Passage. Es gibt Bilder aus diesen Jahren: Kinder, die im Springbrunnen plantschen und Eis essen, Auftritte von Schlagersängern.

Was nicht bedeutet, dass der Bau nicht von Anfang an umstritten gewesen wäre. Zu gigantisch, zu klotzig, zu verwinkelt, mahnten manche. „Klotz“ war auch der Codename, den die RAF-Mitglieder für ihre konspirative Wohnung hier verwendet haben sollen. Die wurde 1978 ausgehoben, da waren die Terroristen aber längst weg. Legendär auch der Ausspruch des damaligen Stadtbaurates Hanns Adrian, der vor dem Monstrum warnte und dann selber einzog. „Der beste Ort zum Wohnen in Hannover, wenn man das Ihme-Zentrum nicht sehen will, ist das Ihme-Zentrum.“

Zwei-Klassen-Komplex

Der Blick nach draußen ist allerdings immer noch ein Argument. Jedenfalls für die zahlreichen Fans, die das Zentrum auch noch hat. Tatsächlich hat man vor allem von den Eigentumswohnungen an der Flussseite einen schönen Blick auf die Ihme und die Innenstadt.

Den möchte auch Karin Menges nicht missen. Die Apothekerin nennt eine zauberhafte Maisonette-Wohnung auf zwei Ebenen ihr Eigen, zu der allein vier Balkone gehören. Auf einem hat sie eine Fass-Sauna installiert, aus der man auf die Kirchtürme der Stadt blickt. Regelmäßig führt sie in- und ausländische Besucher auf verschlungenen Wegen durch das Zentrum und schwärmt für die Architektur und die unterschiedlichen Grundrisse, die man sich damals ausgedacht hat. Es gibt Wohnungen, die sind wie kleine Reihenhäuser angelegt mit offenen Galerien zum Wohnzimmer, zusammengelegte Singlewohnungen, großzügige Penthouses. „Hier hat jede Wohnung etwas Besonderes“, sagt sie. Wobei der Weg dahin oft scheußlich ist, endlose, bunkerartige Gänge, Treppenhäuser und Flure ohne Tageslicht.

Ein Hochhaus am Fluß, davor ein Gebäude aus Sichtbeton.

Klare Klassengesellschaft: Am Fluss ruhige Eigentumswohnungen, an der Straßenseite Hochhaustürme Foto: dpa | Marco Rauch

Auch die Betonarchitektur fasziniert immer noch viele, obwohl diese Art von Brutalismus nur wenige Jahre lang wirklich modern und immer umstritten war. Wobei man ja immer wieder betonen muss: Brutalismus kommt nicht von „brutal hässlich“ wie viele meinen, sondern vom französischen Wort für Sichtbeton, beton brut.

Dessen Anblick bildet an einigen Ecken einen reizvollen Kontrast zur Flusslandschaft und den umgebenden Grünflächen. Aber längst nicht an jeder. Das Ihme-Zentrum hatte von Anfang an auch Züge einer Klassengesellschaft. Hinten am Fluss die schönen und erstaunlich ruhigen Eigentumswohnungen, an der Straßenseite die Hochhaustürme mit Sozialwohnungen und Studentenwohnheim. Vor allem der Sozialwohnungsblock galt von Anfang an als Problemfall. Da fielen schon einmal Fernseher aus den Fenstern, von Drogenrazzien, Wohnungsprostitution und Gewalttaten wurde getuschelt.

Allerdings ist selbst an den hässlicheren und lauteren Ecken des Ihme-Zentrums die Lage eigentlich unschlagbar: Es grenzt direkt an das In-Viertel Linden, das Stadtzentrum ist zu Fuß oder mit dem Rad in wenigen Minuten erreichbar, an jeder Ecke fahren Straßenbahnen und Busse.

Alle zehn bis 20 Jahre gründet sich aus den Reihen trotziger Anwohner und zugezogener Kulturschaffender eine Bürgerinitiative, die versucht, dem Koloss neues Leben einzuhauchen. „Zukunftswerkstatt“ heißt die aktuelle. Das Problem ist: Es ist nicht so, dass es hier an guten Ideen mangelt. Es mangelt eher an dem nötigen Geld.

Die Eigentumsverhältnisse sind ein Albtraum. Es gibt kleine Eigentümerversammlungen und große Eigentümerversammlungen und todsicher immer jemanden, der blockiert. Lange versuchten verschiedene Initiativen deshalb etwas an den Teilungserklärungen der 70er-Jahre zu ändern. Vergeblich, irgendjemand klagte immer.

Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre begann man zumindest die Gewerbeflächen, die vorher auch in verschiedenen Händen gewesen waren, zusammenzuführen. Im Vergleich zu den nun überall stehenden Einkaufszentren und Shopping-Malls wirkte vor allem die Ladenpassage immer armseliger und muffiger, sie war ja auch nicht einmal durchgehend überdacht.

Im Betonmonster

Bei den umfangreichen Büroflächen retten die Stadt und öffentliche Unternehmen den Koloss vor dem Untergang: Ämter, die Stadtwerke-Tochter Enercity, die NordLB. Auch hier wurden allerdings mit den kommenden Jahren ein immer höherer Sanierungsbedarf sichtbar. Dafür braucht man große Investoren, keine kleinkrämerischen Teileigentümer.

Der Erste in dieser langen Reihe hieß Engels und legte große Pläne vor, mit viel Glas und einer neuen Öffnung zum Stadtteil. Auch das war nämlich so ein Problem dieser Raumschiff-Planung: In die Ladenpassage gelangte man immer nur über Aufgänge oder Rolltreppen, als müsste man sich von dem Betonmonster verschlucken lassen.

Auf der Straßenebene zeigt sich das Zentrum abweisend, da sind nichts als Lieferzonen und Tiefgarageneinfahrten. Auch zum Fluss hin schottet sich der Bau ab: Da war zwar irgendwann einmal ein Yachthafen geplant, der wurde aber nie gebaut, genauso wenig wie die U-Bahn-Linie bis hierher. Einen Zugang zum Ufer gibt es nicht. Damals vielleicht kein Wunder: Das Zentrum entstand auf einer Industriebrache, der Fluss war lange Zeit zum Baden eher ungeeignet.

Ein Radfahrer fährt durch eine Unterführung im Ihme-Zentrum.

Problematische Raumschiff-Planung: In die Ladenpassage gelangt man nur durch das Innere des Zentrums Foto: dpa | Marco Rauch

Doch aus dem Traum aus Glas und Stahl wurde nichts, 2006 gingen die Anteile von Engels an den nächsten Investor, die amerikanische Carlyle-Group, die noch ein bisschen weiter zurückbauen und aufreißen ließ, bevor ihr die Finanzkrise ab 2008 so zusetzte, dass sie die zuständigen Tochterfirmen in die Pleite rutschen ließ.

Die Anteile wurden zwangsversteigert, fanden aber erst im zweiten Anlauf einen neuen Besitzer. Jahrelang war damit Stillstand auf der Riesenbaustelle. 2015 übernahm Intown, eine Immobilieninvestmentfirma mit Gesellschaftern aus Zypern und Israel, die vor allem deshalb in die Schlagzeilen geriet, weil 2017 zwei ihrer Hochhauskomplexe in Wuppertal und Dortmund wegen akuter Brandschutzmängel geräumt und hunderte von Mietern durch die betroffenen Städte anderweitig untergebracht werden mussten.

Intown verkaufte seine Anteile am Ihme-Zentrum 2019 überraschend an eine der zahlreichen Tochterfirmen von Lars Windhorst, der seine Unternehmensgruppe mittlerweile Tennor nennt, damals hieß sie noch Sapienda.

Lars Windhorst bei der Mitgliederversammlung von Hertha BSC Berlin

Investor Lars Windhorst, hier im Mai 2022 noch mit Hertha-Fahne Foto: dpa | Soeren Stache

Windhorst hat eine lange Unternehmergeschichte hinter sich, inklusive spektakulärer Pleiten und Gerichtsverfahren. Er galt einmal als Unternehmerwunderkind, weil er schon mit 16 Jahren ins Computergeschäft einstieg. Daraufhin wurde er von Helmut Kohl auf Asienreisen mitgenommen, worin sein erstes internationales Firmenkonglomerat wurzelt. Aber auch die erste große Pleite im Zuge der Asienkrise und dem Platzen der Dotcom-Blase. Doch er rappelte sich wieder auf, machte weiter. 2019 geriet er mit dem Kauf von Anteilen am Berliner Fußballverein Hertha BSC erneut in die Schlagzeilen. Im gleichen Jahr erwarb er das Ihme-Zentrum. Und in beiden Fällen ähnelt sich der Ärger, der dann folgte: Immer wieder gab es Unruhe, wurden große Zahlungen zugesagt, die dann nicht pünktlich oder nur scheibchenweise ankamen.

In Hannover war man erst einmal erleichtert, weil sich Windhorst – im Gegensatz zu den gesichtslosen ausländischen Investoren vorher – zumindest blicken ließ. Er lief durchs Rathaus, schüttelte Hände, beantwortete Fragen. Und machte große Versprechungen: Betonsanierung im Sockelgeschoss, neue Fassaden, Mieter aus Handel und Gewerbe, die angeblich kurz vor der Vertragsunterzeichnung standen.

Doch die vertraglich vereinbarten Baufortschritte wollten sich nie einstellen. Die meiste Zeit über tummelten sich nicht einmal genug Arbeiter auf der Dauerbaustelle, um das überhaupt zu schaffen. Die Stadt drohte, die Stadt forderte Informationen, die Stadt kassierte Strafzahlungen. Nichts davon nutzte etwas. Nun zieht sie also die letzte Karte und macht von ihrem Sonderkündigungsrecht Gebrauch. Damit schwindet allerdings auch ihre letzte Einflussmöglichkeit.

Spannend wird, wie Windhorst nun reagiert. Der Spiegel deckte schon im vergangenen Jahr auf, dass er hohe Grundschulden auf das Ihme-Zentrum hat eintragen lassen. Er nutzte die Immobilie also vermutlich, um frisches Kapital locker zu machen. Einen Weiterverkauf erleichtert das nicht.

Eine Galerie aus dreckigem Sichtbeton stößt an Hochhaus-Wohnungen.

Es ist, was es ist: ein sanierungsbedürftiger Stadtteil Foto: dpa | Marco Rauch

Einige der unermüdlich Engagierten aus dem Ihme-Zentrum wünschten sich sogar, dass Windhorst die fürs Ihme-Zentrum zuständige Projektgesellschaft pleitegehen lässt. Das, so glauben sie, könnte den Weg freimachen für eine „hannoversche Lösung“. Für eine solche hat beispielsweise der Ex-Umweltdezernent der Stadt, Hans Mönninghoff (Grüne), erst jüngst wieder Werbung gemacht. Im Verbund mit Architekten, Stadtplanern, Künstlern und Bewohnern wünscht er sich, dass zur Abwechslung endlich einmal einheimische Investoren einsteigen. Wenn man die Wege und einen Teil der bisherigen Gemeinschaftsflächen zu öffentlichen Flächen umwidmet, glaubt er, könnte man sogar öffentliche Fördermittel locker machen. Dann müsste man das Ihme-Zentrum nämlich endlich als das behandeln, was es ist: ein sanierungsbedürftiger Stadtteil und kein privates Bauwerk.

Wenn man dann noch einen Teil der Büros in Wohnungen verwandelt, könnte sich das in Zeiten des knappen Wohnraumes doch sogar lohnen, hoffen sie. Und auch wenn der Traum vom Einkaufszentrum ausgeträumt ist, könnte man immerhin zukunftsträchtiges Kleingewerbe (Start-ups! Irgendwas mit 3-D-Druck!), einen Logistikhub und Dienstleister aus dem Gesundheitssektor ansiedeln.

Die Stadt reagiert auf solche Vorstöße erst einmal verhalten. Sie hat natürlich auch viel größere Sanierungsgebiete am Bein, in Stadtteilen, wo viel mehr auf der Kippe steht als im dann doch vergleichsweise kleinen Ihme-Zentrum, wo eine gutbürgerliche Klientel verzweifelt versucht, ihre Altersvorsorge zu retten.

„Einfach abreißen“ wie es in Straßenumfragen immer mal wieder gefordert wird, kann man das Ding allerdings auch nicht. Nicht nur, weil dem die Eigentümerstruktur entgegen steht. Sondern auch, weil niemand da ist, der die horrenden Kosten dafür übernehmen würde.

Als „größtes gegossenes Betonfundament Europas“ wurde der Bau damals gepriesen, bis heute zählt der Klotz zu den Top Ten der größten zusammenhängenden Gebäude Deutschlands (jedenfalls, wenn man die Nutzfläche zu Grunde legt). Betoniert für die Ewigkeit. Unter Denkmalschutz steht er allerdings nicht: Dazu wurde über die Jahre zu viel daran herumgemurkst.

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