Ian Waelder-Ausstellung in Hannover: Nasen der Erinnerung
Nasenförmige Meisenknödel und zerfallene Vaterporträts: In Hannover verbindet Ian Waelder Innen und Außen der Kestner-Gesellschaft zu einer Erzählung.

Was hängt da derzeit bloß an der Glasfassade der Hannoverschen Kestner-Gesellschaft? Zu ihrem Außenauftritt gehört seit jeher eine Fassadenarbeit, die weit über den Goseriedeplatz ausstrahlt. Früher ein simples Werbebanner, wurden daraus unter der Direktion von Adam Budak, von Ende 2020 bis 2024, zyklisch erneuerte Neon-Schriftzüge wechselnder Künstler:innen. Die lasen sich mitunter wie Kommentare zur inneren Verfasstheit des Hauses.
Die neue Intervention entpuppt sich beim Nähertreten als asymmetrisch gesetzte Gruppe aus acht überlebensgroßen Nasen, aus einer beigegrauen Masse geformt. Sie stammen von Ian Waelder, 1993 in Madrid geboren und seit seinem 2023 absolvierten Kunststudium an der Frankfurter Städel-Schule dort sowie auf Mallorca und in Basel lebend.
Diesem jungen Künstler richtet die Kestner-Gesellschaft derzeit eine Einzelpräsentation aus, die besagte Fassade, den Lichtgraben zwischen Erd- und Obergeschoss und den zentralen Raum im Parterre umspannt. Waelder operiert mit ungewöhnlichen Materialien und jeder Menge thematischer Bezüge, auch ins Familiäre. Der Titel „thereafter“ – danach – will das Weiterwirken von Überresten, Gesten und Spuren ansprechen. Es geht Waelder um ein offenes Erinnern an Personen, Geschehnisse oder Institutionen, dargestellt durch provozierte Alterungsprozesse und organische Veränderungen.
Die acht Nasen auf der Fassade sind der Physiognomie seines Vaters nachgebildet. Er stand Modell für eine gut 30 Zentimeter große Gussform aus Ton. Mit ihr wurden anschließend Nasen aus Papiermaché geformt, die mit einer Paste aus Fett, Futterkörnern und einem pflanzlichen Geliermittel überzogen wurden. Es sind also in ihrer Form etwas außergewöhnliche Meisenknödel, die nun im Außenraum darauf warten, von Vögeln oder der Witterung langsam bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst zu werden.
Gedämpfte Stimmung
Referenz ist der aus Hannover gebürtige Schweizer Künstler Dieter Roth (1930–1998), der mit Lebensmitteln und ihren Verrottungs- oder Verschimmelungsprozessen arbeitete. Er kreierte 1969 das „Multiple P.O.TH.A.A.VFB“ („Portrait of the Artist als Vogelfutterbüste“), ein Selbstporträt aus Schokolade und allerlei Körnern. In einem Exemplar demonstrativ der Zersetzung im Außenraum überlassen, haben die restlichen, gut konserviert, in Museumsinventaren überdauert. Roth persiflierte damit das Selbsterhöhungspathos und den Ewigkeitsanspruch klassischer Büsten aus Marmor oder Bronze.
Ian Waelder liegt solch Selbstironie eher fern. Die sogenannte Claussenhalle im Erdgeschoss hat er bis auf einen kleinen Einschlupf auf der Rückseite verschlossen. Tritt man ein, stößt man frontal auf eine lange Wand – aus dünner, brauner Pappe. Auch der Boden ist mit dem Material ausgelegt, die Füße treten in etwas Weiches, Schützendes, hinterlassen kaum merkbare Eindrücke.
Die Stimmung ist spürbar gedämpft, in dieser zudem spärlich ausgeleuchteten Raumschicht ertönen vereinzelte Geräusche: ein Tropfen, ein Knacken, und immer wieder Fetzen einer Klaviermelodie. Folgt man der braunen Wand in ihrer mäandernder Abwicklung, begegnen einem rätselhafte Objekte: Schuhleisten oder die massiven Vorderteile von Schuhspannern, mit Schnürsenkeln versehen, ragen aus der braunen Kartonage heraus. Sie sind „Bystander“, Stellvertreter, für etwas abwesend Anwesendes, in diesem Falle wieder Waelder senior, der einst in einem Schuhgeschäft arbeitete.
Palmen, Kakteen und Wasser
In dem Objekt „Sprain (38)“ zu Deutsch: „Verstauchung (38)“, entwächst dem Leisten dann eine (väterliche) Nase aus Porzellan. Die Klaviertöne repräsentieren übrigens den Großvater und eine leere Stützkonstruktion soll an den Juden Justus Bier erinnern: bis 1936 von der Kestner-Gesellschaft im Amt gehaltener und anschließend auf seinem Weg ins Exil unterstützter Direktor ihrer Institution.
Im Herzen des Papplabyrinths erhellt eine Lichtdecke den Raum. Auf ihr liegen Zeitungsblätter, die mit Tee- und Fettflecken oder Haferflocken zu Organismen wurden, Membranen zwischen unterschiedlichen Sphären des Öffentlichen. Die Presseauswahl zeigt Artikel zu Kindern, „Elterngeld“ ist etwa zu lesen. Dazwischen liegen verblasste Blätter, die einen rennenden Jungen zeigen. Ihn sieht man in mehreren Bewegungsetappen auf einem fast sechs Meter langen gedruckten Triptychon im Lichtgraben wieder. Allerdings ist die motivische Erkennbarkeit durch weitere Bearbeitungen auf eine sehr zarte, verblasste Erinnerung reduziert.
Ian Waelder: thereafter; Trevor Yeung: Underwater Haze; Som Supaparinya: The rivers they don’t see; bis 16. 11., Kestner-Gesellschaft, Goseriede 11, Hannover
Künstlergespräch mit Ian Waelder: Do, 13. 11., 18 Uhr; Workshop mit Ian Waelder: Fr, 19. 11., 19 Uhr
Als vitalen Kontrast lässt Trevor Yeung aus China in den zwei Obergeschossräumen eine exotische Welt aus Palmen, Kakteen und einem künstlichen Wasserkreislauf entstehen.
Im Erdgeschoss fragt die Thailänderin Som Supaparinya in ihren Videos, ob eine nationale Regierung das Recht hat, Flüsse und ihr Wasser auszubeuten und so Umweltzerstörungen großen Umfangs heraufzubeschwören. Und die Präsentation der Institutionsgeschichte wird fortgesetzt, nun in einem Ambiente von Assaf Kimmel.
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