IG-Metall-Chefin über Lohnerhöhungen: „Die Menschen brauchen mehr Geld“
In der Konjunkturflaute sei Lohnzurückhaltung keine Option, sagt IG-Metall-Chefin Christiane Benner. Auch die Bundesregierung müsse mehr investieren.
taz: Frau Benner, der VW-Konzern ist in einer tiefen Krise, der Vorstand hat Entlassungen und Werksschließungen auf die Tagesordnung gesetzt. Die IG Metall fordert für die Beschäftigten 7 Prozent mehr Lohn und 170 Euro mehr im Monat für die Auszubildenden. Ist das angemessen?
Christiane Benner: Zahlreiche Aktionen mit mehreren Tausend Beschäftigten zum Verhandlungsauftakt geben die Antwort: Ja, das ist angemessen, und die Menschen brauchen mehr Geld. Das fordern wir nicht nur für VW, sondern auch für die gesamte Metall- und Elektrobranche. Wir haben unsere Forderungen bereits im Sommer beschlossen und dafür knapp 320.000 Beschäftigte befragt; und sie passen aus unserer Sicht zur aktuellen Situation.
Jahrgang 1968, ist Erste Vorsitzende der IG Metall. Sie ist die erste Frau an der Spitze der größten europäischen Einzelgewerkschaft, die 2,2 Millionen Mitglieder hat.
taz: Wirklich?
Benner: Die Beschäftigten haben mit dem hohen Preisniveau zu kämpfen, das durch die hohe Inflation der vergangenen Jahre entstanden ist. Gleichzeitig sind die Menschen verunsichert, wenn sie in die Zukunft blicken. Sie halten ihr Geld zusammen. Das spürt die Wirtschaft. Wer kein Geld ausgibt, kauft auch kein neues Elektroauto, kein neues Sofa oder eine Waschmaschine. Insofern würden höhere Löhne die Konsumlaune steigern und damit die Wirtschaft stabilisieren.
taz: Die Arbeitgeberseite bei VW wird argumentieren, dass höhere Löhne die Krise verschärfen. Was entgegnen Sie ihr?
Benner: Moment. Die Probleme bei VW sehen wir auch, aber sie sind nicht auf die Löhne zurückzuführen. Tarifpolitik kann viel gestalten, gute Löhne, passende Arbeitsbedingungen und klare Perspektiven. So sorgt Sozialpartnerschaft für Stabilität und Zusammenhalt. Aber: Ein Chaos in der Förderpolitik hat zu einem Einbruch beim Kauf von E-Autos geführt. Wir wollen Rahmenbedingungen, die unsere Industrie stärken. Da muss die Politik ran. Da gibt es einige Themen, bei denen wir uns sogar grundsätzlich mit den Arbeitgebern einig sind, niedrigere Energiepreise und schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren. Das wäre ein Rezept gegen die Krise und die schlechte Stimmung in den Betrieben.
taz: An der IG Metall wird die Rettung von VW nicht scheitern?
Benner: Nein. Aber die IG Metall allein kann VW auch nicht retten. Wir sind verhandlungsbereit. Die Menschen wollen einen sicheren Arbeitsplatz. Dafür kämpfen wir. Es braucht von Unternehmensseite Investitionen in neue Fahrzeugmodelle und mal wieder einen echten Volkswagen, eine Strategie für die Elektromobilität und die Wettbewerbsfähigkeit. Gerade im Vergleich zu den chinesischen Autoherstellern. Lohnverzicht der Beschäftigten wird VW nicht aus der Krise helfen. Das gilt für die gesamte Branche.
taz: Sie sehen Lohnzurückhaltung also als falsch an?
Benner: Ja.
taz: Nicht nur bei VW, auch für die gesamte Metall- und Elektroindustrie finden Tarifverhandlungen statt. Gerade haben die Arbeitgeber ein Angebot vorgelegt. Wieso haben Sie das nicht angenommen?
Benner: Was die Arbeitgeber angeboten haben, ist zu wenig, zu lang und zu spät. 1,7 und 1,9 Prozent in Stufen über eine Strecke von 27 Monaten und mit erster Erhöhung Mitte 2025 reicht den Leuten in unseren Betrieben nicht. Da muss mehr drin sein. Das werden wir deutlich machen am Verhandlungstisch – und wenn da nichts passiert, auch auf der Straße.
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taz: Wäre es nicht besser, auf Beschäftigungssicherung zu setzen statt auf Lohnerhöhungen?
Benner: Wir haben während Corona sehr verantwortungsvolle Abschlüsse gemacht, die Lohnerhöhungen und Beschäftigungssicherung kombiniert haben. Also: Wir haben einen guten Werkzeugkoffer. Den nutzen wir, um Arbeitsplätze zu sichern.
taz: Aber wenn die Belastungen für Unternehmen zu groß werden?
Benner: Da gibt es passende Lösungen. Auf der Ebene einzelner Betriebe lassen wir Abweichungen vom Tarifvertrag zu, wo wir sagen: Okay, wir verzichten für zwei Jahre zum Beispiel auf Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld, und dafür bekommen wir eine Beschäftigungssicherung für mindestens diese Zeit. Da finden wir immer Wege. Wir haben auch Branchen, denen es gut geht wie im Bereich der Medizintechnik und der Luftfahrt, wo richtig viel Geld verdient wird.
taz: In den 90-er Jahren wurde bei VW die Vier-Tage-Woche eingeführt, um Jobs zu sichern. Ist das jetzt auch ein Weg?
Benner: Wir prüfen alle Optionen, wie wir Beschäftigung sichern können. Arbeitszeitverkürzung ist ein Weg. In konjunkturellen Dellen verhindern wir so auch Kurzarbeit.
taz: Wie verträgt sich das mit dem Fachkräftemangel?
Benner: Mein Rat an die Arbeitgeber: Nutzt und entwickelt Modelle, um Beschäftigte in schwierigen Zeiten an Bord zu halten, damit man wieder hochfahren kann, wenn es besser läuft. Fachkräfte zu halten ist weniger kompliziert, als sie später wieder suchen zu müssen.
taz: Laut VW-Management fehlen dem Konzern 5 Milliarden Euro, um Jobabbau und Werksschließungen zu verhindern. Für 2023 hat Volkswagen allerdings an die Aktionär:innen 4,5 Milliarden Euro ausgeschüttet, offenbar mit den Stimmen der Gewerkschafter:innen im Aufsichtsrat. War das ein Fehler?
Benner: Da muss man genau hinschauen. Über die Ausschüttung wurde Anfang des Jahres entschieden. Da war VW in einer anderen Situation. Dass es schwierig werden würde, war klar. Trotzdem gab es eine Investitionsplanung nach vorne. Wir prüfen grundsätzlich, ob genug Geld im Unternehmen bleibt. Wenn die Zukunft durch Investitionen gesichert ist, kann man auch Geld an die Aktionäre ausschütten. Wir haben in vielen Unternehmen auch Mitarbeiterbeteiligungen verhandelt.
taz: Hat das VW-Management im Bereich der Elektromobilität Fehler gemacht?
Benner: Wie der Betriebsrat deutlich macht, gab es mindestens Versäumnisse. Volkswagen hatte eine Strategie und auch die Werke für die Produktion von Elektroautos umgestellt. Jetzt mag es an den Modellen liegen, die einfach nicht so gut ankommen. Aber langfristige Planbarkeit und klare Perspektiven tragen wesentlich dazu bei, dass solche Strategien dann auch tragen. Menschen brauchen eine klare Vorstellung, elektrisch fahren zu können. Dazu gehören etwa erschwingliche Modelle, genug Ladesäulen und günstiger Ladestrom. Das Thema Software Defined Vehicle, also ein Auto mit guter Digitalisierung und Potenzial zum autonomen Fahren, ist eine Herausforderung.
taz: Warum ist die Software bei VW ein Problem?
Benner: Das ist ein komplexes Feld. Einfach gesagt, wurden dabei zu oft keine guten Entscheidungen gefällt. Die Folge ist, dass gerade chinesische Wettbewerber VW beim Thema Software überholt haben. Daraus muss man lernen.
taz: Nicht nur VW hat Probleme, die anderen deutschen Autobauer auch. Welche Verantwortung trägt die Bundesregierung dafür?
Benner: Die Bundesregierung hat mit ihrem Hin und Her bei der Förderung der Elektromobilität viel zur gegenwärtigen Lage beigetragen. Dass die Förderung für Elektroautos vergangenen Dezember gestrichen wurde, war ein großer Fehler. Das hat zu Einbrüchen bei den Verkaufszahlen und großer Unsicherheit geführt. Wir erwarten von der Politik deshalb, dass Elektromobilität wieder für mehr Menschen erschwinglich gemacht wird. Etwa mit einem Social-Leasing-Modell oder günstigerem Ladestrom. Auch muss die Ladeinfrastruktur weiter ausgebaut werden, für Pkw wie für Lkw.
taz: War es richtig, dass Kanzler Scholz auf ein deutsches Nein gedrängt hat, bei der Frage um EU-Zölle auf chinesische Elektroautos?
Benner: Ja. Das war richtig. Die IG Metall und alle unsere Betriebsräte aus der Automobilindustrie haben sich gegen Zölle ausgesprochen. Wir müssen mit einer Verhandlungslösung gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen.
taz: 2024 ist das zweite Rezessionsjahr in Folge. Wie kann die Wirtschaftskrise schnell überwunden werden?
Benner: Indem wir sofort Entscheidungen treffen und sagen: Wir investieren in unsere Zukunft. Für uns als IG Metall sind zwei Punkte ausschlaggebend. Wir brauchen dringend wettbewerbsfähige Energiepreise für die energieintensiven Unternehmen. Was weg ist, ist weg. Das geht über die ganze Wertschöpfungskette. Wir stehen vor der Gefahr, wichtige Industriebereiche zu verlieren, vom Schraubenhersteller bis zum Systemanbieter, von der Gießerei bis zum Presswerk. Jetzt stehen viele Investitionsentscheidungen in Unternehmen an, die bereit sind, den klimagerechten Umbau mitzugestalten. Aber wenn wir beispielsweise grünen Stahl wegen der Energiekosten nicht wettbewerbsfähig produzieren können, schießen wir uns ins Aus.
taz: Und zweitens?
Benner: Beherzte Investitionen in das Thema Elektromobilität auf jeder Ebene. Da muss jetzt erkennbar gehandelt werden, damit auch die Industrie weniger Argumente hat, die Flinte ins Korn zu werfen. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich nicht im Klein-Klein zerredet, sondern dass angepackt wird, dass jetzt investiert wird, für gute Arbeit, starke Wirtschaft, stabile Demokratie.
taz: Sind Sie als IG-Metall-Chefin zufrieden mit der Regierung?
Benner: Nein. Zufrieden wäre das falsche Wort. Das sage ich ganz ehrlich. Aber ich sehe gerade schon einige Themen, die richtig angepackt werden. Zum Beispiel das Rentenpaket II und das Thema Tariftreue.
taz: Beim Thema Tariftreue geht es darum, dass der Staat nur noch Aufträge an Unternehmen gibt, die Tarifverträge abgeschlossen haben. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will das Gesetz, aber wegen der FDP kommt es nicht voran. Kommt es trotzdem noch in dieser Legislaturperiode?
Benner: Von alleine kommt es nicht. Wir setzen uns weiterhin deutlich dafür ein und reden mit Politik und Arbeitgebern, damit wir das hinbekommen. Sozialpartnerschaft steht in der Pflicht, ihren Beitrag zur Stabilisierung dieser Gesellschaft zu leisten. Und dazu gehören gute Einkommen durch Tarifverträge.
taz: Der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm, hat kürzlich angesichts der Ampelpolitik von verlorenen Jahren gesprochen. Würden Sie dem zustimmen?
Benner: Es braucht Investitionen in unsere Bildung und öffentliche Daseinsfürsorge. Es braucht Investitionen, damit keine Brücken einstürzen, die Straßen keine Risse bekommen und Schulklos wieder funktionieren. Da hätte viel früher gehandelt werden müssen. Da ist die Schuldenbremse eine Zukunftsbremse.
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