Hype um Audio-App „Clubhouse“: Die Idee der Entbündelung
Das soziale Netzwerk Clubhouse erfährt einen Hype. Dabei schafft die Audio-App keine Innovation – sondern bloß alte Gefahren neu verpackt.
Es ist nur ein paar Wochen her, da waren die Tweets und Facebookposts fast aller deutscher Meinungsmenschen plötzlich durchsetzt von einem Wort: Clubhouse. Das neue soziale Netzwerk erlaubt es, bei Live-Gesprächen zu lauschen – wie im Radio – oder sogar mitzumachen – wie meistens nicht im Radio. Seitdem wurde viel diskutiert über die Qualität der Gespräche und den Stress, den ein weiteres soziales Netzwerk mit sich bringt. Doch die App verdient schon allein deshalb Aufmerksamkeit, weil sie eine Strategie fortsetzt, mit der in den letzten zwei Jahrzehnten und meist von US-amerikanischen Start-ups eine etablierte Industrie nach der anderen umgekrempelt wurde: das „Entbündeln“.
„Ich kenne nur zwei Arten, Geld zu verdienen: bündeln und entbündeln“ lautet ein im Silicon Valley berühmter Satz von Jim Barksdale, ehemaliger CEO des Browserpioniers Netscape und damit einer der Weichensteller der modernen Internetökonomie. Und die hat seitdem vor allem mit der Entbündelung bewährter, nicht digitaler Produkte sehr viel Geld verdient. Die Idee ist so simpel wie bestechend und lässt sich am Beispiel von Medien gut erklären.
Nehmen wir das Produkt „Zeitung“. Die Zeitung ist in ihrer analogen Form zwangsweise ein Kompromiss, denn der Platz für Inhalte ist begrenzt. Der logistische Aufwand für Druck und Vertrieb verhindert außerdem jede Art von Individualisierung. Auch wenn ich mich nur für den Politikteil interessiere, bekomme ich den ganzen Rest mit dazu: gebündelt. Ein Angebot, das immer nur die größtmögliche Schnittmenge aus allen Interessen bieten kann.
Ähnlich verhält es sich beim Fernsehen oder beim Radio, wo in maximal 24 Stunden und auf je einer Frequenz ein Angebot stattfinden muss, das die größtmögliche Menge an Zuschauer*innen erreicht: mit ein paar Nachrichten, ein wenig Unterhaltung, viel Musik und etwas Verkehrsfunk. Ein bisschen für jeden, aber für keinen alles.
Dieses Bündeln hat durchaus Vorteile. Erst durch diese Strategie wird die klassische Zeitung überhaupt finanzierbar. Es hat aber auch diverse Nachteile. So leiden im Bündel oft jene Inhalte, die als schwerer konsumierbar gelten. Die im Zweifel ein bisschen schlauer sind, ein bisschen abseitiger und ein bisschen tiefgängiger: lange Reportagen in Zeitungen oder im Radio, komplexe Dokumentarfilme oder Serien im Fernsehen. Beim aktuellen Boom von Podcasts und Serien vergisst man schnell, dass viele davon in einer Form daherkommen, die praktisch in ihrer gesamten vorherigen Geschichte konstant zu Grabe getragen wurde. In der analogen Zeit hat es niemand je geschafft, damit dauerhaft Geld zu verdienen.
Die Nichtlinearität des Internets
Bis plötzlich Leute wie Jim Barksdale und seine Nachfolger*innen in der Wagniskapital-Maschinerie des Silicon Valley begannen, mit ihrer Idee der Entbündelung auf eine wichtige Neuerung zu reagieren: die Nichtlinearität des Internets. Platz war plötzlich unendlich und alles gleichzeitig abrufbar, bei verschwindend geringen Distributionskosten. Der einst gute Kompromiss der alten Medienbündel wurde immer mehr zum Anachronismus. Warum die „Tagesschau“ aussitzen, wenn ich bloß den Krimi schauen will? Warum Radiointerviews ertragen, wenn ich Musik hören will?
Als das Entbündeln von Zeitungen begann, kamen als Erstes die Bestandteile mit dem niedrigsten inhaltlichen Wert an die Reihe: Stellen- und Kleinanzeigen. Denn es ist hundertmal praktischer, „Damenrad 55 Zoll“ in eine Suchmaske zu tippen, als den Finger über eine Zeitungsseite in winziger Schrift gleiten zu lassen. Die Kleinanzeigen, lange eine verlässliche Geldquelle für Verlage, wanderten also in ein anderes Medium: ins Onlineportal.
Man könnte nun vermuten, dass Entbündelung als Strategie immer dann funktioniert, wenn sie den Konsum von Dingen erleichtert, die in ihrer gebündelten Form schwerer zugänglich waren oder qualitativ schlechter. Es gibt aber auch Beispiele für das genaue Gegenteil: die ins Smartphone gebündelte Taschenlampe zum Beispiel ist in der Regel schlechter als selbst das günstigste Modell vom Baumarkt – das man aber natürlich nie dabei hat, wenn man nachts seinen Schlüssel fallen lässt. Welche Strategie wann gewinnt, das Bündeln oder das Entbündeln, hängt oft vom Markt ab, von der technischen Entwicklung oder schlicht von Moden. Der Effekt ist aber fast immer: ein Umbruch der beteiligten Branchen.
Ein Netzwerk wie Clubhouse ist deshalb nicht isoliert zu betrachten, sondern als weiterer Schritt in der Entbündelung etablierter Medienformen. Das Radio ist in dieser Hinsicht längst schon viel gebeutelter als gemeinhin gedacht: In Spotify mögen viele vor allem einen Neuentwurf der klassischen Plattenindustrie sehen; in Podcasts eine Renaissance der Audioerzählung – doch bei beidem wird ganz nebenbei auch eifrig das Radio entbündelt.
Viel Hass, viel Fragwürdiges
Genau wie die linearen TV-Sender längst ihre schlauesten Serien- und Filmfans an Netflix und Sky verloren haben, hat das Radio die meisten seiner Musikfans längst an Spotify-Playlisten verloren und wundert sich nun über Millionen Fans der Audioreportage, wo derer früher eher mal hundert bei Nacht eingeschaltet haben. Selbst der Verkehrsfunk wird inzwischen abgeschafft. Es wird zwar immer noch Auto gefahren, aber die Navigationssysteme und -apps denken Staumeldungen inzwischen mit. Die Verkehrsmeldung wurde also ent- und woanders wieder gebündelt.
Clubhouse wagt sich nun an den wohl letzten noch nicht entbündelten Bestandteil des Radios: den Live-Talk. In einer hübschen App diskutieren Menschen rund um die Uhr zu praktisch jedem Thema, man kann den besten, klügsten, witzigsten Menschen ihres Fachs zuhören – zudem ist das Ganze flink durchsuchbar und macht Vorschläge gemäß den individuellen Interessen der Nutzer*in. Aber, natürlich auch: mit allen Nachteilen. Es gibt viel Hass, viel Sexismus, viel Fragwürdiges.
Kaum vorzustellen, dass eine App wie Clubhouse nicht ihren festen Platz findet im weltweiten Medienkonsum. Es ist auch bezeichnend, dass einer der größten Investoren des neuen Audionetzwerks Marc Andreessen ist. Andreessen hat als Anfang-20-Jähriger Netscape gegründet und stand direkt neben Jim Barksdale, als der zum ersten Mal vom Entbündeln sprach. Andreessen sitzt außerdem im Aufsichtsrat von Facebook. Clubhouse mag gerade noch ein Image als nette Underdog-App haben, aber hier arbeiten Menschen am nächsten Megakonzern.
Und damit wird aufs Neue ein zwar regulierter, aber im Prinzip offener Markt ersetzt durch eine komplett privatwirtschaftliche Plattform. Eine, die scheinbar offen daherkommt – jeder kann mitmachen! – aber letztlich ein Silo ist. Die keine einzige neue Idee mitbringt, wie sie all die Probleme angehen will, die bereits die älteren sozialen Netzwerke überfordern. Man muss weder Innovationskraft noch Unternehmer*innentum verteufeln, um zu merken, dass wir als Gesellschaft hier die falschen Anreize setzen. Und dass es Zeit ist, über mehr Regulierung zu sprechen.
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