Hurrikan „Helene“ in den USA: Von der Welt abgeschnitten
Der Sturm „Helene“ hat die USA mit Wucht getroffen. Mindestens 180 Menschen starben, viele werden vermisst. North Carolina kämpft mit den Folgen.
Am Freitagmorgen wachten Crystal Bowlick, 40, und ihr Mann Casey Franklin, 32, vom Geräusch umfallender Bäume auf. Der Strom in ihrem Zuhause im Städtchen Ashville im US-Bundesstaat North Carolina fiel aus. Die einzige Verbindung zur Welt da draußen blieb ein kleines Transistorradio.
In den nächsten Tagen würde sich die gesamte Nachbarschaft auf das Gerät verlassen. Internet gab es keines und sonst besaß kaum jemand noch ein Radio. So erfuhren sie, welche Kirche Essen verteilte, wo sauberes Trinkwasser zu holen war. Vier Tage lang wusste Bowlick nicht, ob ihre Eltern im benachbarten Bergdörfchen am Leben sind.
Der Hurrikan „Helene“ hat den Südosten der USA mit gewaltiger Wucht getroffen. Mit einer Windgeschwindigkeit von bis zu 225 Kilometern pro Stunde und damit als „extrem gefährlicher“ Hurrikan der Stufe vier war er zunächst in Florida auf Land getroffen. Offiziell liegt die Zahl der Todesopfer bei mindestens 200. Hunderte Menschen werden noch vermisst. Niemand weiß, ob sie ums Leben gekommen oder von der Welt abgeschnitten sind.
North Carolina besonders schwer betroffen
Betroffen sind Florida, South Carolina, Tennessee, Georgia und North Carolina. In einigen dieser Staaten hat Präsident Joe Biden den Katastrophenfall ausgerufen. Mit jedem Tag wird das Ausmaß der Katastrophe deutlicher. Tag und Nacht dröhnten Polizeisirenen und Hubschrauber über ihren Köpfen, die nach Toten und Vermissten suchten, sagt Bowlick.
Vor allem im Westen North Carolinas haben Wassermassen ganze Ortschaften mitgerissen, Häuserreihen verschwanden unter den Fluten. Teile des malerischen Hippiestädtchens Ashville in den Appalachen, bekannt für seine Craft-Bier-Brauereien, sind ausgelöscht. Drei Wochen solle es dauern, bis das Trinkwasser zurückkommen wird, sagt Bowlick. Viele Familien mit Kindern mussten in andere Teile des Bundesstaates flüchten und wurden von fremden Familien aufgenommen.
Die New York Times berichtete von einem 75-Jährigen, der sich sechs Stunden lang im Wasser an einem Baum festhielt und um Hilfe schrie. Familien und Freunde riefen die Feuerwehr, die sich nicht ins Wasser traute, aus Angst, vom Strom mitgerissen zu werden und ein ganzes Dorf ohne Rettungsteam zurückzulassen. Schließlich fiel der Mann kopfüber ins Wasser. Seine Nichte sah, wie sein Körper weggespült wurde.
Hilfe über Facebook-Gruppen organisiert
Crystal Bowlick und Casey Franklin sprechen aus der Ortsbibliothek mit der taz, dem einzigen Ort mit Internet. Am Dienstag sei immerhin die Elektrizität in ihre Nachbarschaft zurückgekehrt. Die Menschen hätten gejubelt, als das Licht anging. Heute, sagt Bowlick, habe sie zum ersten Mal nach sechs Tagen geduscht: „Ich habe unter der Dusche geweint.“
Über Facebook-Gruppen organisieren sich Tausende private Hilfsinitiativen. Es fehlt an allem, vor allem an Trinkwasser. In einer Bar im Zentrum von Durham, ebenfalls North Carolina, stehen in der Ecke Pakete mit Hunde- und Katzenfutter, die Freiwillige abgeliefert haben. Elon Musk hat sein „Starlink“-Satelliteninternet in die Region geschickt – eine schlaue Taktik im Wahlkampf für Donald Trump. Vor nächster Woche wird es allerdings nicht ankommen.
Ethan Clark, 21, Student für Umweltwissenschaften und Meteorologie hat seit seiner Kindheit eine Faszination für Stürme. Mit 14 Jahren startete er seinen eigenen Wetterdienst „North Carolinas Weather Authority“, zunächst nur für seine Heimatstadt Raleigh und einige abgelegene Appalachendörfer im Westen des Staates, wo seine Verwandten leben. Follower schickten ihm detaillierte Wetterkoordinaten, seine Vorhersagen wurden präziser. „‚Helene‘ war kein Sturm, auf den man sich vorbereiten konnte. Entweder du verlässt dein Zuhause oder du betest“, sagt er.
„Sie glauben nicht an den Klimawandel“
Inzwischen folgen Clark über eine halbe Million Menschen auf Facebook. Nach der Verwüstung wandten sich plötzlich Behörden, Polizisten, Politiker und verzweifelte Einzelpersonen auf der Suche nach Vermissten an ihn: Wie kein anderer verfügt er im gesamten Bundesstaat über ein Netzwerk mit Kontakten in die entlegensten Ortschaften.
„Seit einer Woche arbeite ich von sieben Uhr morgens bis ein Uhr nachts. Ich kann nicht mehr“, sagt er der taz im Telefonat. Auf seiner Facebook-Seite häufen sich Dankbekundungen: Über seine Kommentarfunktion konnte Clark in den schwersten Stunden der Ungewissheit helfen, unzählige Familien zusammenzuführen, die einander tagelang nicht erreichen konnten.
Clark weiß sehr gut, dass „Helene“ auch ein Ergebnis des Klimawandels ist. Aber er spricht das nur öffentlich laut aus, weil die taz eine deutsche Zeitung ist, gibt er zu. „Die Ortschaften im Westen von North Carolina sind alle republikanisch. Sie glauben nicht an den Klimawandel. Ich möchte meine Follower nicht verärgern.“
Trennlinie zwischen Republikanern und Demokraten verschwimmt
Tim Futrelle, 49, sagt, in der vergangenen Woche habe er kurz vergessen, wer welcher Partei angehöre. Futrelle ist demokratischer Bürgermeister des Studentenstädtchens Boone im Appalachengebirge. Der Hurrikan hat Boone verwüstet, wie wenige andere Orte. Hunderte Notrufe nahm Futrelle alleine letzten Freitag entgegen, als der Boden, von den Regenfällen stark übersättigt, Millionen Liter Wasser aufnehmen musste und nichts mehr ging. Der schwierigste Teil seien jetzt die Bergungsarbeiten.
In diesen Tagen würde sich die Spreu vom Weizen trennen: Die Lokalpolitiker, die für ihre Gemeinden alle möglichen Opfer bringen und solche, die schlichtweg nicht genug tun würden. Das sei keine Trennlinie zwischen Republikanern und Demokraten, sondern zwischen Menschen.
„Und wer wie viel getan hat, wird sich auch bei den Präsidentschaftswahlen spiegeln“, sagt Futrelle. „Das Gemeinschaftsgefühl und die politische Unterstützung, die wir bekommen, bedeutet uns sehr viel. Ich bekam Anrufe aus dem Weißen Haus, vom Gouverneur, von FEMA“.
Katastrophenschutz war unter Trump zweitrangig
FEMA, die Federal Emergency Management Agency, ist eine staatliche Behörde und sorgt bei Katastrophen wie Erdbeben, Bränden oder Fluten für Wiederaufbauhilfe und koordiniert Hilfstruppen. Während Trumps Amtszeit war Katastrophenschutz zweitrangig, häufig blieb dringend benötigte Hilfe aus. Auch jetzt fürchtet man, dass Trump im Falle seines Wahlsieges das Budget von FEMA kürzen könnte.
Futrelle sorgt sich, dass viele Menschen in Boone und in anderen Dörfern am 5. November keinen Zugang zu Wahllokalen haben könnten, viele seien zerstört – und das ausgerechnet in dem umkämpften Swing-State North Carolina. Hoffentlich dürften die Wähler schon in Frühwahlen ab dem 16. Oktober abstimmen. Wie das logistisch aussehen könnte, ist ungewiss. Alles andere könnte den Wahlausgang jedoch stark beeinflussen.
Viele Menschen ohne Versicherung
Am Mittwoch besuchten Joe Biden und Kamala Harris die Katastrophengebiete, die überschwemmten Gebiete besah Biden in einem Helikopterflug. Er schickte bis zu 1.000 Soldaten nach North Carolina, die bei der Lieferung von Lebensmitteln und anderen Gütern helfen. „Wir stecken noch mittendrin, ich kann den finanziellen Schaden nicht abschätzen. Aber wenn ich schätzen müsste: Alleine für Boone und Umgebung könnte es eine halbe Milliarde sein“, sagt Futrelle.
Viele Menschen könnten sich keine Versicherung gegen Überflutungen leisten oder seien durch ihre Versicherung nicht abgedeckt. Futrelle sei in Gesprächen mit FEMA, die derzeit überprüfen würden, ob sie einen Teil des Schadens für Menschen ohne Versicherung abdecken könnten.
Viele Hausbesitzer konnten die Versicherungskosten in den letzten Jahren nicht mehr stemmen. Mit der Zunahme von Naturkatastrophen sind die Preise angestiegen, gleichzeitig verbinden die Wähler die Verbraucherpreise mit Bidens Amtszeit und der Inflation – kein Vorteil für die anstehende Wahl.
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