Hungerstreik in Belgien: Das letzte Mittel der Sans-Papiers
475 Menschen ohne Papiere befinden sich in Belgien im Hungerstreik. Sie fordern ihre Legalisierung und eine Aufenthaltsrechtsreform.
Um sie herum liegen dicht an dicht Menschen, allesamt ausgemergelt und schwach. 150 sind es insgesamt, die hier übernachten. Sie kommen aus Pakistan, Nepal, Palästina, Nigeria und vor allem aus Nordafrika. Seit fast 50 Tagen befinden sie sich im Hungerstreik. Der Grund dafür: Die meisten von ihnen leben und arbeiten seit vielen Jahren in Belgien – und doch hat niemand hier einen Aufenthaltstitel.
Sie selbst nennen sich „Sans-Papiers“, die Papierlosen. Schätzungsweise leben zwischen 100.000 und 150.000 Menschen, 1 bis 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, ohne legalen Aufenthaltstitel in Belgien und dürften somit offiziell auch nicht arbeiten.
Eine Legalisierung ihres Aufenthalts auf bürokratischem Weg ist in dieser Situation für sie kaum zu erreichen. Dazu müssten entweder „medizinische“ oder „humanitäre“ Gründe vorliegen. Doch während Erstere nur in absoluten Ausnahmefällen zum Tragen kommen, sind die „humanitären“ Gründe so vage formuliert, dass es – so die Kritik – allein der Willkür der Behörden obliegt, ob jemand diesen Status bekommt oder nicht.
Gefordert wird ein legaler Aufenthaltsstatus
Im Januar haben sich daher einige Hundert Aktivst:innen in Brüssel zu einem Kollektiv zusammengeschlossen, der Union des Sans Papiers pour la Régularisation. Ihre Forderungen: eine Reform des Aufenthaltsrechts – und einen sofortigen legalen Status aller Aktivist:innen. Dafür haben sie erst die Barockkirche Saint-Jean-Baptiste au Béguinage im Stadtzentrum von Brüssel besetzt, dann im Februar die ULB und die Vrije Universiteit Brussel (VUB). Seit 23. Mai befinden sich 475 Aktivist:innen in den drei Besetzungen im Hungerstreik.
Seitdem hat Ram Pallsad Khatiwda 13 Kilo verloren, fünfmal wurde er mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Am schlimmsten aber sei, dass er seine fünfjährige Tochter nicht mehr gesehen habe. „Ich will nicht, dass sie mich in diesem Zustand sieht“, sagt der 33-Jährige. „Stattdessen haben wir ihr erzählt, ich sei eine Zeit verreist. Manchmal, wenn sie mich anruft, sagt sie: Papa, du hast es gut, dass du so lange Urlaub machen darfst!“
Khatiwda lebt seit 2005 in Belgien. Das erste Mal hat er bei seiner Ankunft, das zweite Mal im Jahr 2009 einen Asylantrag gestellt, der aber drei Jahre später abgelehnt wurde. Um Geld zu verdienen, hat er erst illegal auf dem Bau gearbeitet, dann als Koch für verschiedene Cateringservices und auf Einladung bei privaten Veranstaltungen. „Ich kann davon leben, aber ich habe keine Versicherung, es gibt keinen Staat, der sich verantwortlich fühlt, wenn ich meine Arbeit verliere“, sagt er.
Mit Beginn der Coronapandemie und dem ersten Lockdown in Belgien habe er kaum noch Aufträge bekommen. Pandemiebedingte Arbeitslosigkeit: Das ist eine Geschichte, die viele der Hungerstreikenden teilen – ganz gleich, ob sie in der Gastronomie, auf dem Bau oder in der Kinderbetreuung arbeiten. So auch Halima*.
Jobs, die Belgier nicht machen wollen
Sie sitzt wenige Meter entfernt von Khatiwda hinter den geblümten Bettlaken, die an der Decke der Cafeteria festgemacht sind und den Schlafbereich der Frauen vom Matratzenlager der Männer trennen. Auf den Knien hat sie einen Schreibblock und kritzelt ein paar Zeilen auf Papier. Vor sechs Jahren, erzählt sie, sei sie aus Marokko nach Europa gekommen, um Arbeit zu finden. Bei den Behörden gemeldet hat sie sich nie.
In Belgien hat sie erst als Putzkraft, später als Haushälterin bei belgischen Familien gearbeitet. „Alles Jobs, die die Belgier selbst nicht machen wollen. Sie wollen, dass wir für sie arbeiten – aber sie wollen nicht, dass wir Papiere haben.“ Deshalb hat sie sich entschlossen, einen Brief zu schreiben. An Sammy Mahdi, den Staatssekretär für Migration und Flüchtlinge von der flämischen Rechtspartei Christen-Democratisch en Vlaams (CD&V):
„Wir haben den Hungerstreik nicht begonnen, um Sie zu erpressen, Mr. S. M. Der Hungerstreik ist ein Angebot zum Dialog, von dem wir hoffen, dass er zum Ende unseres Leidens führt, das durch die Coronakrise noch verschlimmert wurde. Wir sind hier seit vielen Jahren und die Regierung erwartet, dass wir hier sterben ohne Identität.“
Mahdi ist der Hauptadressat, gegen den sich der Protest und die Wut der Papierlosen richtet. Ein junger aufstrebender Konservativer, der mit seinen 32 Jahren und als Sohn eines Geflüchteten für eine „Beruhigung des Diskurses“ sorgen sollte. Einer, von dem manche in Brüssel sagen, dass der Hungerstreik seine politische Karriere entscheiden könnte; denn seine Haltung war bislang eindeutig: „Wenn sich, wie sie sagen, 150.000 Menschen illegal in Belgien aufhalten und 200 von ihnen beschließen, einen Hungerstreik zu beginnen, um einen legalen Status zu erhalten, werden eine Woche später 2.000 oder sogar 20.000 andere dasselbe tun“, erklärte Mahdi schon Ende Juni.
Der Staatssekretär bleibt hart
„Der Koalitionsvertrag ist ganz klar“, sagt Mahdi. „Es wird keine kollektiven Aufenthaltserlaubnisse mehr geben. Die Regeln gelten immer noch und ich werde meine Politik nicht plötzlich ändern, weil diese Leute entscheiden, mit dem Essen aufzuhören.“ Nichtsdestotrotz verhandelt der Staatssekretär seit einer Woche mit den Aktivist:innen über eine mögliche Lösung. Die Erfahrung mit ähnlichen Aktionen sagt, dass die Hungerstreikenden wohl nur noch 10 bis 15 Tage überleben können.
„Die Regierung hat Angst“, glaubt Charlotte Fichefet, sie ist Politikwissenschaftlerin an der ULB und Teil des Unterstützer:innen-Netzwerks der Sans-Papiers. „Denn der Kampf der Kollektive der Sans-Papiers in Belgien hat eine längere Tradition.“ Mehrmals sei es den Sans-Papiers gelungen, One-Shot-Legalisierungsaktionen durchzusetzen.
Während der ersten Proteste 1999/2000 wurden von 50.000 Anträgen 40.000 dauerhaft bewilligt, und auch Mitte und Ende der 2000er wurden mit Hungerstreiks mehrere Legalisierungen durchgesetzt. Im Jahr 2010 erhielten 10.000, 2011 6.000 Personen einen Aufenthaltstitel. Schon damals war die Kirche Saint-Jean-Baptiste au Béguinage Zentrum des Protests.
An diesem Abend sind die Türen der Kirche verriegelt. Vergangene Woche haben die Aktivist:innen beschlossen, den Protest zu verschärfen und keine Ärzt:innen, Unterstützer:innen und Journalist:innen mehr hineinzulassen. Schon jetzt sind sechs Selbstmordversuche bekannt, vier Personen haben sich die Münder zugenäht.
Als es dunkel wird, strömen mehrere Dutzend Unterstützer:innen auf den Platz vor der Kirche. Viele sind Mitglieder der örtlichen Gemeinde, haben Fackeln und Kerzen mitgebracht und skandieren: „Olala, olélé, solidarité avec les sans-papiers!“ Einer der wenigen Sans-Papiers-Aktivist:innen, die an diesem Abend nach draußen vor die Kirche treten, ist Ahmed. Er ist 63, kommt aus Marokko, lebt seit acht Jahren in Brüssel und agiert als Sprecher der Kirchenbesetzer.
130.000 offene Stellen in Belgien
„Mir ist wichtig, dass klar ist: Wir sind keine Obdachlosen oder Schutzsuchenden – wir sind Arbeiter.“ Er selbst habe in Belgien acht Jahre lang als Elektriker auf dem Bau gearbeitet, 15 bis 16 Stunden am Tag. 40 bis 50 Euro habe er dafür bekommen. „Das ist kein versuchter Massensuizid, das ist ein Arbeitskampf: gegen eine Politik, die dafür sorgt, dass Menschen bis auf die Knochen ausgebeutet werden. Und der Hungerstreik ist das letzte Mittel.“ Wären sie nicht bereit, in diesem Kampf ihr Leben zu lassen, dann würde ihnen auch niemand zuhören. „Auch der französischen Revolution sind viele große Frauen und Männer zum Opfer gefallen – aber am Ende haben sie die Freiheit erkämpft“, sagt Ahmed.
„In Belgien sind derzeit 130.000 Stellen offen. Jedes Jahr gehen Zehntausende in Rente und niemand weiß, wie man die nachbesetzen soll“, erzählt er. „Dabei wäre die Lösung so einfach: Legalisiert uns, wir sind hier. Aber nein, ihre rassistische Politik ist ihnen wichtiger als die eigene Wirtschaft.“
Ob Belgien gegenüber den Papierlosen die Menschenrechtskonvention bricht, ist inzwischen Thema von Beratungen bei den Vereinten Nationen. Vergangenen Donnerstag hat Olivier De Schutter, der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und extreme Armut, die Menschen in der Kirche besucht – anschließend sagte er: „Was ich gehört habe, war erschütternd, denn viele sind seit vielen Jahren in Belgien. Sie befinden sich in einem Rechtsvakuum, während ihre Kinder hier auf die Schule gehen und sie arbeiten, haben sie keine Möglichkeit, sich über die Formen der Ausbeutung zu beschweren, denen sie ausgesetzt sind.“
In der Cafeteria der ULB hat Ram Pallsad Khatiwda sein Smartphone herausgeholt und zeigt das Bild einer Kindergartengruppe. „Siehst du das Mädchen dort?“, fragt er. „Das ist meine Tochter. Sie wurde vor fünf Jahren geboren. Und sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Pass. Keinen nepalesischen, keinen belgischen. Gar keinen. Und deshalb bin ich hier und kämpfe.“ Nur wie lange dieser Kampf noch dauern wird, das weiß in Brüssel derzeit niemand.
*Name auf Wunsch der Protagonist:innen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind