Homeschooling während Corona: Schulen auf Reset
Seit sieben Wochen sind die Schulen geschlossen. Wie gehen Familien und LehrerInnen mit der Situation um? Ein digital-analoger Überblick.
D och, es gab schon mal eine ähnliche Situation. Nach der Kapitulation Nazideutschlands vor 75 Jahren blieben die Schulen in Deutschland erst einmal geschlossen. Schon in den Monaten zuvor war nur noch sporadisch unterrichtet worden. Heute ist das Leben unvergleichlich friedlicher und komfortabler, und dennoch: Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Schulen in Deutschland wieder flächendeckend zu.
Bundesweit lernen und lehren über acht Millionen Schüler und ihre Eltern und über 600.000 Lehrer derzeit von zu Hause. Die Schulen sind angehalten, das Lernen zu Hause zu organisieren – eine Aufgabe, mit der kaum eine Schule Erfahrungen hat. Die Eltern mutieren zu Hilfslehrern, was viele von ihnen zunehmend überfordert. Die Schüler haben die neue Freiheit, selbstbestimmt zu lernen – und die Pflicht, sich dafür zu motivieren. Die Bildungspolitiker schließlich müssen die Leitplanken für diesen bisher unbekannten Kurs setzen.
Ein Kurs, der über familiäre Zumutungen führt, den Wert von Abschlussprüfungen infrage stellt, der Zukunftschancen neu verteilt und die Kluft zwischen privilegierten und abgehängten Schülern vergrößert. Die grobe Richtung aber stimmt: Die Digitalisierung des Unterrichts, jahrelang nur für einzelne Internetschulen relevant, ist das Megathema. Es geht dabei nicht nur um Hard- und Software, sondern auch um Kompetenzen: Im digitalen Zeitalter müssen Schüler Probleme analysieren und im Internet Daten erheben und Lösungen bewerten können. Dazu müssen sie in der Lage sein, selbstständig zu arbeiten und ihr Lernen zu planen.
Die internationale Vergleichsstudie ICILS zu den digitalen Fertigkeiten von Schülern legte bereits 2013 und 2018 offen, dass Deutschlands Schüler das im Vergleich nur mittelgut beherrschen. Kaum verwunderlich, spielten doch digitale Medien im Unterricht bislang eine untergeordnete Rolle. Das hat sich über Nacht geändert.
Diese Krise ist eine Zäsur. Die Kultusminister sind sich jedenfalls einig, dass die Mehrzahl der Schüler bis zu den Sommerferien weiterhin vor allem zu Hause lernen wird. Vor 75 Jahren startete der reguläre Schulbetrieb wieder am 1. Oktober. Dass Schülerinnen und Schüler und ihre Schulen bis zum Herbst zum gewohnten Betrieb zurückkehren, ist derzeit nicht zu erwarten. Vielleicht nie mehr. Und vielleicht ist das auch gut so.
Die Familie
Als Ziad Alzaour 2015 von Syrien nach Deutschland kommt, hört er Lieder, die Deutsche mögen, um die deutsche Kultur zu verstehen und die Sprache zu lernen. Juliane Werdings „Man muss das Leben nehmen, wie das Leben eben ist“ zum Beispiel. Der 41-jährige Bauingenieur und seine Familie leben seit vier Jahren in Essen, in einer Fünfraumwohnung auf 100 Quadratmetern.
Abgesehen davon, dass die Alzaours nur eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis haben, unterscheidet sich ihr Familienalltag gerade wenig vom dem vieler anderer Eltern in Deutschland. Sie sind nicht mehr nur Mama und Papa, sondern auch Deutsch-, Mathe-, Bio- und Musiklehrer.
Die drei Töchter, Wajd, Rand und Amal, gehen in die achte, siebte und vierte Klasse, Najd, der Sohn, wird dieses Jahr eingeschult. Marie, die Jüngste, ist mit eineinhalb Jahren noch zu Hause. „Wir versuchen immer, dranzubleiben“, erzählt Vater Alzaour am Telefon. Die Mädchen bekommen jede Woche Aufgaben per Mail, die sie an einem der beiden Laptops der Familie oder an ihren Handys bearbeiten. Für die zehnjährige Amal haben die Eltern nach den Osterferien Aufgaben in der Grundschule abgeholt. Für Najd haben sie eine App im Internet gefunden: Mit der kann er erste Buchstaben und Rechnen lernen.
Die Alazours versuchen, den Tag zu organisieren, zwei Stunden Schule, eine Stunde Pause. „Aber die Kinder haben manchmal keine Lust zu lernen, es ist schwer, sie zu motivieren.“ Wajd ist 14 Jahre alt und will mal Ärztin werden, erzählt sie. Jede Woche schicken sie die Ergebnisse ihrer Aufgaben an ihre Lehrer. Das meiste kann sie allein bearbeiten. Wenn sie Fragen habe, dann wende sie sich an ihre Eltern. Am Tag zuvor habe ihr Vater ihr etwas in Bio erklärt, es ging um die Weiterleitung von Informationen im Gehirn. Damit ist sie gegenüber ihren Klassenkameraden im Vorteil. Deren Eltern könnten nicht helfen, die fragten dann manchmal sie.
Warum kein Videounterricht?
Sollte die Schule die Kinder mehr unterstützen? „Die Lehrer machen alles möglich, wir sind zufrieden“, sagt der Vater. Obwohl, er zögert. Es gebe doch diese Streamingplattform, mit der man wunderbar Videokonferenzen mit bis zu 100 Teilnehmern organisieren könne. Das ließe sich doch auch gut für den Unterricht nutzen. „Wieso machen die Lehrer in Deutschland das nicht? Das ist doch besser als diese Arbeitsblätter, und das motiviert auch und organisiert den Tag. Wir wären auch bereit, dafür zu bezahlen.“
Nach einer repräsentativen Befragung im Auftrag der Vodafone-Stiftung wünschen sich fast 40 Prozent der Befragten eine bessere Unterstützung für das Lernen zu Hause durch die Lehrkräfte. Ein Viertel der befragten Lehrer an Gymnasien und sieben Prozent der Lehrkräfte an Grundschulen nutzen tägliche Videochats.
Dass Unterricht und der Austausch von Arbeitsblättern derzeit fast nur elektronisch erfolgen kann, benachteiligt vor allem die Familien, die nicht die nötige Hardware haben. Ein Problem, das jetzt auch die Politik erkannt hat und Eltern, die Sozialleistungen beziehen, über das Bildungs- und Teilhabepaket einen Zuschuss von 150 Euro für den Kauf eines Computers gewährt.
Auch Familie Alzaour bezieht staatliche Sozialleistungen. Allerdings verfügen sie über das nötige kulturelle Kapital, ihren Kindern zu helfen. Laut Befragung findet es fast die Hälfte der Eltern mit niedriger Bildung schwierig, die Kinder beim Lernen zu unter-stützen, bei den Eltern mit hoher Bildung sind es nur rund 20 Prozent.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Wenn die Schulen weiterhin geschlossen blieben, fände er das sehr schlecht, sagt Vater Alzaour, ohne lange nachzudenken. „Dann verlieren die Kinder die Lust zu lernen.“ Seine Tochter sagt, am meisten vermisse sie ihre Freunde. Wo sie lerne, sei eigentlich egal. Ihre Eltern lägen ihr sowieso ständig in den Ohren: „Streng dich an, damit du eine gute Zukunft hast.“
Der Digitalisierungsbeauftragte
Wie sehr die vergangenen Wochen den Arbeitsalltag von Lehrer:innen umgekrempelt haben, erkennt man am Arbeitsplatz von Theo Taureau. Wo normalerweise Skizzenbücher, Bleistifte und Radiergummi liegen, steht nun auch ein aufgeklappter Laptop. Taureau ist Ethik- und Politiklehrer mit einer Liebe zum Analogen. Zentrale Fragestellungen malt er seinen Schüler:innen an die Tafel.
Doch seitdem die Schulen auf Fernunterricht umsteigen mussten, greift auch Taureau zu digitalen Medien: Mit seinen Schüler:innen trifft er sich nun zu virtuellen Schulstunden auf der Plattform Discord, die sonst vor allem von Gamern genutzt wird; mit seinen Kolleg:innen tauscht er sich auf der Plattform Slack aus. Die Kommunikation über solche Programme hält Taureau für sehr bedenklich – und gleichzeitig für die beste Alternative zum Regelbetrieb. Oder wie er es formuliert: die demokratischste.
Taureau, 29, kurze Haare, legere Klamotten, sitzt am Küchentisch seiner Berliner Wohnung und sucht nach Worten für sein persönliches Coronadilemma. Es ist der Mittwoch vor zwei Wochen. Soeben haben sich Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsident:innen der Länder auf eine vorsichtige, schrittweise Rückkehr zum Regelunterricht geeinigt. Es ist der Moment, in dem klar wird: Das digitale Lernen war keine Sache von wenigen Wochen, sondern wird die meisten Schüler:innen über Monate begleiten – vielleicht länger.
Es dann auch richtig machen
Dass es so kommen könnte, hat Taureau geahnt. Als Mitte März die Schulen geschlossen wurden, setzte er sich intensiv mit verschiedenen E-Learning-Plattformen auseinander. Wenn das länger dauert, dachte Taureau, wolle er die Sache gut machen, trotz seiner Skepsis. Denn seine Berliner Gesamtschule besuchen viele Schüler:innen, die nach der Warnung von Bildungsforscher:innen zu den Verlierern des häuslichen Lernens zählen könnten. Und das bestätigt sich schon in Taureaus erster digitalen Unterrichtsstunde im März. In seiner 8b sind nur 11 der 25 Schüler:innen erschienen. Warum sie fehlten, weiß Taureau bis heute nicht.
„Für diese Kinder haben wir eine Fürsorgepflicht“, sagt er. Allein deshalb hält er es für geboten, als Lehrkraft „auf allen Kanälen“ ansprechbar zu sein. Neben den virtuellen Unterrichtsstunden können seine Schüler:innen mit ihm über die Lernplattform chatten oder auch E-Mails schreiben. Umso mehr ärgert ihn, dass sich einige seiner Kolleg:innen so gut sie können vor der Einarbeitung in Chat-Programme oder Lernplattformen drücken. Eine Kollegin habe sogar vorgeschoben, weder PC noch Smartphone zu besitzen.
„Als die Schulleiterin digitalen Unterricht per Dienstanweisung vorschreiben wollte, gab es einen Aufstand im Lehrerzimmer.“ Die Folge: Die Schulleiterin ruderte zurück. Seither sei ein Teil der Lehrerschaft im Ferienmodus. So zumindest nimmt Taureau es wahr, der noch in der Probezeit ist und für das Gespräch mit der taz keine Erlaubnis eingeholt hat. Deshalb steht hier weder sein richtiger Name noch der der Schule.
Die Vorbehalte gegen einen Digitalisierungszwang kann Taureau zwar nachvollziehen: „Entscheidungen in Krisenzeiten werden weniger reflektiert.“ Umso wichtiger sei aber, dass sich Lehrer:innen stärker an den offenen Fragen beteiligten: Welche Plattformen scheiden aus Datenschutzgründen aus? Wie lassen sich Arbeit und Privatssphäre trennen?
Kurz vor den Osterferien deutete die Schulleiterin an, dass sie ihn gerne in einer neuen AG zum Thema digitaler Unterricht sehen würde. Nach Ostern dann verkündet die Schulleitung, eine Schulcloud einrichten und ein E-Learning-Tool für das Kollegium kaufen zu wollen.
Die Abiturientin
Immerhin, seufzt Liz Kleinhans, kann sie noch arbeiten gehen. Einmal die Woche entkommt die 19-Jährige der Isolation, in der sich die Gymnasiastin seit nunmehr sieben Wochen auf die Abiturprüfungen vorbereitet. Statt an ihre Leistungskurse Deutsch, Religion und Kunst denkt Liz dann – an Sprengstoff. Seit einem Jahr jobbt sie neben der Schule als Sprenghelferin in einem nahen Steinbruch, erzählt sie am Telefon. Eine Arbeit, bei der sie zwar auch alleine ist, aber immerhin draußen, nicht im Haus ihrer Eltern.
Das befindet sich im 700-Seelen-Dorf Billingshausen bei Göttingen. Und damit fangen die Probleme an. Das Internet ist hier, im oberen Rodetal, manchmal so schlecht, dass an virtuelle Lerngruppen nicht zu denken ist. Manchmal müsse sie warten, bis ihr Vater von der Arbeit kommt und ihr über sein Telefon Zugang ins Netz verschafft. Und im Gegensatz zu anderen Bundesländern wie Hessen oder Berlin hatten die niedersächsischen Abiturient:innen Mitte März, als die Schulen schlossen, noch längst nicht ihren Stoff durch.
Zwar hat der niedersächsische SPD-Kultusminister Grant Hendrik Tonne die Prüfungen um drei Wochen verschoben und die Schulen für Abiturjahrgänge Anfang der Woche wieder geöffnet. Doch für Liz und ihren Jahrgang heißt das: Nach all der Zeit zum ersten Mal wieder als Kurs zusammenkommen – und zwei Wochen darauf die erste Prüfung schreiben.
E-Mail an den Kultusminister
Bei Liz geht es am 14. Mai los. Der Göttinger Abiturjahrgang war sich schnell einig: Von Chancengleichheit gegenüber früheren Jahrgängen kann nicht die Rede sein. Ihre Empörung ging so weit, dass sie ihrem Kultusminister per Mail einen Fragenkatalog vorlegten, den dieser, nach mehrmaligem Nachfragen, schließlich beantwortete. Eine Antwort: „Eine Vergleichbarkeit zwischen den Jahrgängen ist gegeben.“ Es sind Antworten wie diese, die viele Abiturient:innen wütend machen, nicht nur in Niedersachsen.
Bereits im März hatten Schüler:innen aus Hamburg eine Petition gestartet, die Abiturprüfungen zugunsten eines Durch-schnittsabiturs abzusagen, das sich aus den Noten der vergangenen zwei Jahre errechnen würde. Eine Forderung, die teilweise auch von Pädagog:innen unterstützt wird. Schließlich machen diese Leistungen ohnehin schon etwa zwei Drittel der Abinote aus. Doch erfolglos. „Wir fühlen uns nicht gehört von der Politik“, sagt Liz Kleinhans.
Auch ihr Jahrgang verschickte im Namen von sieben Göttinger Abschlussjahrgängen einen offenen Brief an das Ministerium, in dem die Jugendlichen ihre Ängste schildern – und der Landesregierung vorwerfen, die Infektion von einigen Zehntausend Schüler:innen samt deren Angehörigen „leichtfertig“ in Kauf zu nehmen. Oder wie Liz es formuliert: „Wegen eines Drittels unserer Abiturnote müssen wir das Leben unserer Angehörigen aufs Spiel setzen.“
Ihre Oma wohnt mit im Haus. Aus diesem Grund hat Liz beschlossen, dem Unterricht fernzubleiben. Dann aber wollte sie ihre Leistungskurse nicht verpassen. Die Entscheidung, wieder in die Schule zu gehen, sei ihr aber schwergefallen. Nicht alle haben sich für die Prüfungsvorbereitung entschieden. Etwa ein Drittel sei lieber zu Hause geblieben.
Der Unterricht ist freiwillig, die Prüfungen sind es nicht. Die Lehrer:innen sollen prüfen, gehören aber vielfach zur Risikogruppe. Liz’ Spanischlehrerin etwa, die im Juni mündliche Abiturprüfungen abnehmen soll, kann derzeit keinen Unterricht geben. Lange hatten Liz und ihre Klassenkamerad:innen auf die Einsicht der Kultusminister:innen gehofft.
Hätten sie Anfang der Woche die Notbremse gezogen und die Abiturprüfungen doch noch abgesagt, wäre für Liz alles gut gewesen. Nach ihren bisherigen Leistungen wäre sie bei einem Abi von 2,0 gelandet. Sonderpädagogik oder Soziale Arbeit kann sie auch mit diesem Schnitt studieren.
Die Lehrerin
Jeden Montag steht Benita Bandow am Fenster des Lehrerzimmers der Hector-Peterson-Schule und tauscht Tüten. Das ist der Tag, an dem die Schüler ihrer 8. Klasse die neuen Aufgaben abholen, die Bandow ihnen zusammengepackt hat. „Ick drucke die Aufgaben für 14 von ihnen in der Schule aus, weil die Familien keinen Drucker haben“, berlinert Bandow durchs Telefon. „Und am Montag schmeiß ich die Tüten dann aus’m Hochparterre.“ Selbst die Schüler, die Computer und Drucker haben, kommen. „Die freuen sich total, mal wieder in der Schule zu sein.“
Bandow steht mit allen 24 Schülern über WhatsApp in Kontakt. Unterricht per Videokonferenz oder über eine Lernplattform bietet sie nicht an. Schulungen in digitalen Unterrichtsmethoden waren bis zur Coronakrise freiwillig, und nur ein Viertel der Lehrer hatte jemals eine besucht. Als dann alle Lehrer im Schnelldurchlauf geschult werden sollten, hatte Bandow keinen Nerv dafür. „Außerdem: Was bringt das, wenn die Hälfte der Schüler dann sowieso nicht mit Zoom arbeiten kann?“
Die Hector-Peterson-Schule liegt im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Bandows neue 8. Klasse ist bunt gemischt: Die Hälfte der Schüler hat arabische Wurzeln, vier sind mit ihren Familien in den letzten Jahren nach Deutschland geflüchtet. Mehr als die Hälfte bezieht Hartz IV oder andere staatliche Leistungen. Häufig fehlen nicht nur Drucker oder Computer, sondern auch Rückzugsorte, an denen die Kinder konzentriert arbeiten können. Und Eltern, die schnell mal den Unterschied zwischen exponentieller und linearer Funktion erklären.
Noch Ende März war Bandow gelassen. Sie sei ganz entspannt, erzählte sie damals am Telefon. Sie schicke nur Wiederholungs-aufgaben, neuen Stoff einzuführen sei gerade nicht sinnvoll. Dann kamen die Osterferien, und auch danach blieben die Schulen geschlossen. Nun haben die Kultusminister ein Konzept für eine vorsichtige Rückkehr zum regulären Schulbetrieb vorgelegt. Klar ist: Eine Rückkehr zum Normalbetrieb steht mittelfristig nicht an.
Sieben Wochen sind die Schulen jetzt geschlossen. „Schon heftig“, meint die Deutsch- und Theaterlehrerin Bandow. Die ehrgeizigen und fleißigen Schüler kämen gut klar, erzählt sie. An der Schule wird großer Wert auf Teamarbeit gelegt. Die Jungen und Mädchen holten sich zuerst Hilfe bei den Mitschülern im Klassenchat. „Aber diejenigen, die schon in der Schule schwer lernten, die haben es jetzt unendlich viel schwerer. Weil die so gut wie nichts mit-nehmen.“
Kontakte zu Eltern gekappt
Früher hätte Bandow die Eltern dieser Schüler in die Schule bestellt, nun sind die Kontakte gekappt. Die Eltern hätten oft keine E-Mail-Adresse. „Selbst wenn“, sagt Bandow, „sie würden meine E-Mail nicht verstehen, weil sie kaum Deutsch sprechen.“ Die Kultusminister raten dazu, neben den Prüflingen auch Schüler, die virtuell abgehängt zu werden drohen, als Erste wieder in die Schulen zu holen.
An der Hector-Peterson-Schule sind jetzt die 10. Klassen wieder eingerückt. Weil die Räume in dem preußischen Backsteinbau schmal sind, müssen die Klassen geviertelt werden, um alle Schüler im Abstand von 1,5 Metern zu platzieren. Für jede Gruppe ist eine LehrerIn abgestellt, die darauf achtet, dass sich die Jugendlichen nicht zu nah kommen. In den Pausen patrouillieren die Lehrer auf den Gängen und im Hof, auch der Eingang zu den Toiletten wird bewacht. „Ein unheimlicher Personaleinsatz“, sagt Bandow. Allein für zwei Klassen seien derzeit 24 Kollegen im Einsatz.
Kaum vorstellbar, dass diese Zwei-zu-eins-Betreuung sich für alle knapp 500 Schüler der Schule aufrechterhalten lässt. Die häufigste Frage, die die Schüler Bandow über WhatsApp stellen, sei derzeit: Wann dürfen wir wieder in die Schule, wann geht’s wieder los? Bandow ist sich sicher: Wenn die Schule wieder öffnet, werden alle Schüler da sein. Auch die schwächsten.
Der Bildungspolitiker
Für ihn und seine 15 Länderkollegen sei das gerade eine besondere Situation, erzählt der Thüringer Bildungsminister Helmut Holter am Handy: „Wir sind plötzlich Krisenmanager.“ Als sie sich am 12. März in der Geschäftsstelle der Kultusministerkonferenz in Berlin zum Frühstück trafen, sprachen sie noch darüber, wie man den Schulunterricht auch trotz Corona aufrechterhalten könne. Abends, beim Treffen der Länderchefs mit der Kanzlerin, bekam die Debatte neue Dynamik. Einen Tag später, am 13. März, fiel die Entscheidung: Die Schulen werden bundesweit geschlossen.
Das digitale Lernen, jahrelang ein Nischenthema, war über Nacht bestimmend geworden. „Die Coronakrise zeigt uns, dass wir nicht auf internationalem Niveau sind“, sagt Holter. Zwar hatten sich Bund und Länder nach langem Hin und Her 2019 auf einen mil-liardenschweren Digitalpakt geeinigt, aber die Umsetzung zog sich hin. Thüringen vergab im Januar Dienstmailadressen an alle Lehrkräfte; im März, als die Schulen schlossen, hatte erst die Hälfte der LehrerInnen die Adresse freigeschaltet.
Gerade zeigt sich auch, dass die Schere zwischen Kindern aus gut gestellten, bildungsaffinen Elternhäusern und Kindern aus sozial benachteiligten Familien auseinandergehe, sagt Holter: „Die Chancengleichheit, die im Präsenzunterricht erreicht wird, wird gerade ausgehebelt.“ Zu Beginn dieser Woche haben er und seine KollegInnen sich in Telefonkonferenzen auf ein Konzept zur vor-sichtigen Öffnung der Schulen geeinigt.
Personal aus Risikogruppen
Holter will, dass alle Thüringer SchülerInnen ab 2. Juni tage- oder wochenweise wieder Präsenzunterricht erhalten. Ob in Schichten oder rotierend, werde man sehen. „In diesem Prozess sind wir alle Lernende“, sagt er.
Holter steht zudem vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Er rechne damit, dass rund ein Viertel der Lehrerschaft nicht für den Unterricht zur Verfügung stehen wird, weil das Risiko, an Corona zu erkranken, zu hoch ist. „Personal, das eh schon knapp war, gilt es jetzt neu zu verteilen.“
Zunächst aber müssen die MinisterpräsidentInnen am 6. Mai dem Konzept der Fachminister zustimmen. Wie schnell deren Beschlüsse über den Haufen geworfen werden, haben sie Mitte März erlebt.
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