Höflicher Umgang miteinander: Eine seltene Blume
Höflichkeit im Alltag ist selten geworden. Besonders unhöflich ist der Straßenverkehr. Das zeigt zum Beispiel der Konflikt um den Ohlsdorfer Friedhof.
M ir fehlt die Höflichkeit, aber sie wird als etwas angesehen, was altbacken und überflüssig ist, reaktionär? Höflichkeit ist kaum noch Bestandteil von Erziehung. Man findet sie nicht, wenn man in die Bahn steigt, nicht, wenn man im Supermarkt ansteht, und schon gar nicht in Internetforen. Das ist natürlich nicht wahr. Man findet sie noch, aber sie ist eine seltene Blume geworden.
Letztens verfolgte ich auf der Seite einer muslimischen Frau eine sehr höfliche Diskussion über die Notwendigkeit des Kopftuchtragens, und ich fühlte mich wie in einer anderen Welt, in der die Menschen respektvoll miteinander umgehen, obwohl sie unterschiedlicher Meinung sind. Da ist es mir bewusst geworden, wie sehr ich diese Art des Umgangs vermisse. Manchmal begegnet sie mir unverhofft. Ein chinesisches Paar möchte sich zu mir an den Tisch setzen, höflich fragen sie, höflich danken sie, mit zusammengelegten Händen, geneigtem Kopf und freundlichem Lächeln. Wie gut das tut. Wie gut ich mich behandelt fühle. Ich wäre sofort bereit, etwas für sie zu tun.
Ich glaube, dass es ein modernes Misstrauen gegen die Höflichkeit gibt, weil sie als etwas Künstliches angesehen wird, als eine Art nutzloser Verstellung. Die Höflichkeit, die ich meine, ist aber nicht künstlich, sie muss zutiefst verinnerlicht sein, Bestandteil des Menschseins. Sie zeigt: Ich sehe dich und respektiere dich. Ich lasse dir Raum. Sie unterscheidet sich von der zweckdienlichen Höflichkeit, die anderen Menschen entgegengebracht wird, weil man etwas von ihnen erwartet. Das ist eigentlich gar keine Höflichkeit, sondern angepasstes Verhalten.
Die Unhöflichkeit unserer deutschen Gesellschaft erschreckt und deprimiert mich jeden Tag, sie ist eine Art kleine Barbarei. Auf diese Weise fügen wir uns gegenseitig Wunden zu, verwundet laufen wir durch die Gegend und wollen uns ständig rächen.
ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Sicherheitszone“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen. Am 30.10. liest sie daraus im Kleinen Michel, Hamburg
Besonders unhöflich ist der Straßenverkehr. Dort wird täglich Hass produziert, es wird gedrängelt, gepost, gemaßregelt, gedroht und provoziert. Schlimmer geht es nur noch in den Kommentarleisten zu Beiträgen über Veganismus, Polizeigewalt oder Corona-Maßnahmen zu.
Ich erzähle das jetzt alles, weil ich mich gerade wieder sehr geärgert habe, über die Auseinandersetzung um den Friedhof Ohlsdorf. Ich nutze selber Friedhöfe, um spazieren zu gehen. Dort ist es meistens ruhig und besinnlich und das mag ich.
Ich gehe gern auf dem Friedhof am Diebsteich spazieren, da ärgern mich allerdings manchmal die Hundebesitzer, die ihre Hunde unbeaufsichtigt ihre Haufen machen lassen. Das ist unhöflich.
Und dann fahre ich auch ab und zu auf den Friedhof Ohlsdorf, der ein sehr großer und außergewöhnlich schöner Friedhof ist. Wären da nicht die Autos, die an einem vorbeirasen. Ja, die Autos rasen an einem vorbei, das habe ich selbst erlebt. Die meisten Besucher*innen könnten vielleicht das Fahrrad nehmen, oder mit dem Bus fahren, der auf dem Friedhof verkehrt. Nur für sehr alte oder gehbehinderte Menschen, oder welche mit kleinen Kindern ist das vielleicht keine Option. Aber sonst? Mit dem Auto durch den Friedhof fahren? Wirklich? Wo Menschen trauern, wo die Toten liegen, wo Menschen Ruhe und Besinnung suchen?
Gegen den unerwünschten Straßenverkehr wurde jetzt eine Schranke angebracht, und die Straßennutzung auf Friedhofsbesucher beschränkt. Die Durchfahrenden sollen draußen bleiben. Und die Durchfahrenden sind empört. Weil die Durchfahrenden eben vor allem eines wollen: durchfahren. Durch Städte, durch Dörfer, durch Wälder, überall wollen sie vor allem eines: durchfahren. Und das ist anmaßend, das ist rücksichtslos, das ist unhöflich. Man fährt nicht durch einen Friedhof, weil ein Friedhof nicht für Durchfahrende da ist, er steht ihnen nicht zu, er ist für die Trauernden und ein Ort der Ruhe. Wer das nicht begreift, wer keinen Respekt vor solchen Orten hat, der ist nichts anderes als ein kleiner Barbar.
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