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Hitzewelle in DeutschlandAm Badesee wird der Mensch zum Tier

Wasser ist der kleinste gemeinsame Nenner in der Klimakatastrophe. Zwischen grölenden Männchen, Füßen, die auf Hände treten und Gewürzketchup.

Auf dem Weg zum Wasserloch: Der Mensch, das Tier Foto: Thomas Warnack/dpa

W ill man den derzeitigen Zustand der Welt in nur einer Szene einfangen, ist der großstadtnahe Badesee an einem zu heißen Juniwochenende dafür der perfekte Ort.

Erster Akt: Verwandlung. Der Mensch ist ein Tier und kehrt das Tierische immer stärker nach außen, je feindlicher seine Umgebung wird. Bei 34 Grad im Schatten zieht er so nackt wie möglich in Karawanen über brennenden Asphalt und sandige Uferpfade in Richtung Wasserloch. Der Schuh drückt, die Hitze mehr. Der Weg ist weit. Der Mensch ächzt und schwitzt und versucht durchzuhalten. Wahlweise mithilfe von Kaltgetränken, aufblasbaren Riesenflamingos, netter Gesellschaft oder Musik, die aus tragbaren Boxen dröhnt. Manchmal auch Drogen.

Männer dürfen endlich wieder Männchen sein, meint: gröhlende Anführer mit Sonnenbrand. Kommunikation nur noch mit so wenig Sätzen wie möglich, die Temperaturen machen den Kopf träge, die Systeme fahren runter. Wie lange noch, bis der schwere Körper im kühlen Wasser treiben kann? Und wäre man nicht besser zu Hause geblieben?

Zweiter Akt: Ankunft. Staunen, Entsetzen und die sich am Ticketschalter anbahnende Ungeduld des Herzens beziehungsweise des Körpers. 20 Minuten anstehen, 8 Euro Eintritt. Erste wirklich ausformulierte Zweifel – ist das eine gute Idee? Kann es tatsächlich nur besser werden? Der Geruch von Gewürzketchup versöhnt. Und dann die Erkenntnis, dass man sich jetzt entscheiden muss. Schlechte Laune haben oder sich einlassen und erkennen, dass man nichts Besseres ist. Ein Wesen zwischen vielen, die sich nach Wasser sehnen – der kleinste gemeinsame Nenner im Angesicht der Klimakatastrophe. Mitmachen oder verzweifeln. Also: teilnehmende Beobachtung.

Empörung, Resignation, Gaffen

Dritter Akt: Zustand. Ein halber Quadratmeter Sand pro Person, Füße, die auf Hände treten, Empörung, Resignation. Kollektives Vergessen der Pandemie, weil ja Sommer ist. Weil wir eine Pause verdient haben, egal, ob es sie gibt oder nicht. Im Sand buddeln Kinder Zigarettenstummel aus, am Steg machen Typen mit verspiegelten Sonnenbrillen Fotos von sich und spannen dabei ihre Muskeln an. Eine Frau wird begafft, weil sie ihre Brüste nicht bedeckt. Eine andere wird begafft, weil sie einen Burkini trägt. Ein Nazi spielt Wasserball. Ein paar Meter weiter vögelt ein Pärchen. Eine Windel treibt neben einer Boje, am Ufer gegenüber ein Rave. In Brandenburg brennt gerade ein Wald, erzählt man sich. Cool und normal.

Vierter Akt: Fragen. Wie sind wir hier gelandet? Ist das die Apokalypse? Sind wir alle Teil eines Hieronymus-Bosch-Flashmobs? Ist uns alles egal, oder ist Verdrängen eben leichter als Konfrontation? Sind wir zu beschäftigt, das optimalste Ich zu werden, sodass wir versäumen, als Gesellschaft besser zu sein?Fünfter Akt: Regen. Er kommt nachts, endlich. Gut für den Garten und für den Wald in Brandenburg. Und er wäscht die Sorgen weg. Bis zur nächsten Hitzewelle.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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2 Kommentare

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  • Kurz zusammengefasst: Hitze ist Mist und Männer sind ganz großer Mist. Danke für die Info.

  • Upps, wo war die Autorin da? Mag sein, dass es solchen Seen gibt, dass sich Menschen so verhalten. Gibt auch andere und nicht überall verhalten sich die Menschen so rücksichtslos.