Historikerin über jüdische SportlerInnen: „Überlebt haben meist die Jüngeren“
Die Historikerin Frauke Steinhäuser hat ein Buch über die Schicksale Hamburger jüdischer SportlerInnen in der NS-Zeit veröffentlicht.
taz: Frau Steinhäuser, in welchen Sportvereinen waren Hamburger Jüdinnen und Juden vor 1933 organisiert?
Frauke Steinhäuser: In jüdischen ebenso wie in paritätischen – überkonfessionellen – Vereinen. Die jüdischen wurden um das Jahr 1900 gegründet. Wer bis dahin Sport in einem Verein treiben wollte, musste sich einem paritätischen anschließen. Das waren oft deutschnational orientierte Vereine in der Tradition der von Friedrich Ludwig Jahn ins Leben gerufenen Turnbewegung. Sie dienten vor allem der körperlichen Ertüchtigung junger Männer für den Kampf gegen den „Erbfeind Frankreich“. Die paritätischen Turnvereine des 20. Jahrhunderts waren aber nicht mehr explizit paramilitärisch ausgerichtet. Und ab Ende des 19. Jahrhunderts schwappten aus England ohnehin „moderne“ Sportarten herüber, bei denen es nicht um Gleichschritt ging, sondern um Wettkampf – etwa beim Fußball.
Wann entstanden Hamburgs erste jüdische Sportvereine?
Der erste entstand 1899, ein – nur für Männer gedachter – „Turncursus“, gegründet von ehemaligen Schülern der Talmud-Tora-Schule und des Israelitischen Jugendbundes. Er war in der jüdischen Community umstritten. Denn manche sagten: Wir wollen doch Assimilation, wieso gründet ihr jetzt einen eigenen Verein? Neben dem Bedürfnis, mit anderen Juden zusammen Sport zu treiben, werden aber auch Antisemitismuserfahrungen in paritätischen Vereinen ein Auslöser gewesen sein. Der „Cursus“ entwickelte sich dann zur „Jüdischen Turnerschaft von 1902“.
Wo stand dieser Verein politisch?
Auf dem Boden der Deutschen Turnerschaft. Er verstand sich nicht als zionistisch oder nationaljüdisch, sondern als Zusammenschluss assimilierter Juden, die sich in erster Linie deutsch fühlen.
51, ist freiberufliche Hamburger Historikerin und Mitarbeiterin beim Stolperstein-Biographieprojekt und forscht über NS-TäterInnen und die sozialrassistische Verfolgung im NS-Staat.
Er blieb nicht der einzige jüdische Sportverein.
Nein. 1910 wurde Bar Kochba gegründet, benannt nach dem Anführer des jüdischen Aufstands von 132 n. Chr. gegen das Römische Reich, Simon bar Kochba. Bar Kochba war ein ausdrücklich zionistisch ausgerichteter Verein, dessen Mitglieder einen eigenen jüdischen Staat forderten und deren vorrangiges Ziel es nicht war, sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft anzupassen.
War Bar Kochba beliebt?
Ja. Der Verein gewann schnell viele Mitglieder. Das lag auch daran, dass man – anders als die nichtjüdischen Vereine – schon vor 1919 Frauen aufnahm, mit passivem und aktivem Wahlrecht. Fast die Hälfte der Mitglieder waren Frauen. Gegen das antisemitische Klischee des schwächlichen „Bücherjuden“ wollte man zudem das Konzept des „Muskeljuden“ setzen und bot unter anderem Boxen an.
Und wo verortete sich die jüdische Sportgruppe Schild?
Sie hat sich 1933 gegründet und war ausdrücklich nicht zionistisch ausgerichtet. Ihre Mitglieder glaubten anfangs noch, dass sie sich mit der NSDAP arrangieren könnten. Dass sie zum Beispiel bei der Zuteilung von Sportstätten genauso berücksichtigt würden wie die nichtjüdischen Vereine. Denn sie waren deutschnational ausgerichtet, fühlten sich assimiliert, waren im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer gewesen und wollten eigentlich keinen jüdischen Sportverein gründen. Aber da die paritätischen Vereine jüdische Mitglieder bald nach der Machtübergabe an die NSDAP ausschlossen, sahen sie sich gezwungen, einen eigenen Verein zu gründen.
Wann entstanden jüdische Arbeitersportvereine?
Ab 1931. Schon 1933 wurden sie aber – gemäß der NS-Ideologie – zusammen mit allen anderen Arbeitersportvereinen als „marxistisch“ verboten.
Ab wann schlossen die paritätischen Vereine Jüdinnen und Juden aus?
Ab Ende März 1933, also fast unmittelbar nach der Machtübergabe an die NSDAP. Sie taten es in vorauseilendem Gehorsam: Es gab noch kein entsprechendes Gesetz, und der Reichssportwart überließ es noch im Herbst 1933 den Vereinen selbst, „nichtarische“ Mitglieder auszuschließen. Einzige Regel: Sie durften in paritätischen Vereinen keine Funktionärsposten bekleiden.
Frauke Steinhäuser: „…bis zu seinem freiwilligen Ausscheiden im April 1933“. Jüdische und als jüdisch verfolgte Sportler:innen im Nationalsozialismus in Hamburg. Hg. Geschichtswerkstatt Eppendorf 2022, 200 S., broschiert, 10 Euro
Gab es paritätische Vereine, die keine Juden ausschlossen?
Ich habe für Hamburg keine gefunden. Der Unterschied lag nur im Zeitpunkt, das heißt, ob sie es gleich 1933 taten oder „erst“ 1938. Dabei hätten sich die Vereine ja auch auflösen können, um Jüdinnen und Juden nicht ausschließen zu müssen.
War der Ausschluss nicht ein Schock für die Betroffenen?
Natürlich. Ich habe rund 30 Interviews ausgewertet, die die „Werkstatt der Erinnerung“ der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte mit Holocaust-Überlebenden geführt hat. Da erzählen einige, wie furchtbar es war, dass sie plötzlich nicht mehr mit den anderen Kindern und Jugendlichen zusammen sein durften. Schwer war es auch für diejenigen, die sich als deutschnational verstanden und sich mit dem Deutschen Reich identifizierten.
Bekamen die jüdischen Vereine ab 1933 noch Hallen und Stadien zugeteilt?
Ja, aber sie waren zweitrangig. Immer wieder mussten Fußball- und Handballspiele, auch Sportfeste kurzfristig abgesagt werden, weil das Spiel eines paritätischen Vereins Vorrang hatte. Die jüdischen Vereine haben schnell gemerkt, dass sie eigene Plätze brauchten. Bar Kochba hat seinen Hockeyplatz in Bramfeld nach 1933 ausgebaut, damit auch andere Sportarten stattfinden konnten. Die Sportgruppe Schild und Blauweiß haben neue Plätze gepachtet.
Wann lösten sich auch die bürgerlichen jüdischen Sportvereine auf?
Nach dem Novemberpogrom 1938 durften sie ihren Sport nicht mehr in der Öffentlichkeit ausüben. In der Folge lösten sich die wenigen noch existierenden jüdischen Vereine auf. Nur aus der Sportgruppe Schild entstand 1939 noch die „Jüdische Sportgemeinschaft“, die sich aber 1941 auch auflöste.
Wie viele dieser SportlerInnen überlebten den Holocaust?
Von den 186 Menschen, deren Biographien ich fast alle erstmals recherchiert und verschriftlicht habe, konnten 137 rechtzeitig emigrieren und überlebten – vor allem die Jüngeren. Einige ältere haben es nicht mehr geschafft, darunter Mitglieder des Hamburger Schachklubs.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist