Historikerin über Brutalismus: „Die Agenten des Vergessens“
Mehr als nur Kulisse für Bierreklame und Netflix-Serien: Die Historikerin Sanja Horvatinčić kämpft für den Erhalt jugoslawischer Partisanen-Denkmäler.
taz: Frau Horvatinčić, was sind Ihre schönsten Kindheitserinnerungen?
Sanja Horvatinčić: Sommertage in Istrien in einem alten Bauernhaus aus Stein. Es war mitten in der Natur. Es gab keinen Strom, keine Elektrizität und ich erinnere mich, wie ich die Gegend erkundete. Die verfallenen Häuser, wilde Tiere gab es – ein Abenteuer.
Wann war das?
So Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger. Genau in der Zeit des jugoslawischen Niedergangs. Der Krieg in Kroatien begann 1991.
Also könnte man sagen, dass Jugoslawien, als es noch nicht zerbrochen war, für glückliche Kindheitserinnerungen sorgte?
Einmal fragte ich meine Mutter, in welchem Land wir leben – und sie sagte: in Jugoslawien. Das gab es da schon gar nicht mehr, aber sie hatte sich damit identifiziert. Meine Erinnerungen an Jugoslawien sind zweiter Hand. Ich verbinde damit ein System, das Nichtprivilegierte förderte, Arbeiter – so wie meine Großeltern.
Welchen Beruf hatte Ihre Mutter?
Sie hat am wissenschaftlichen Institut Ruđer Bošković in Zagreb gearbeitet, sie ist Chemikerin. Sie hat eine beständige, wissenschaftliche Karriere gemacht, die heute so kaum mehr möglich wäre.
Die Person
Sanja Horvatinčić ist post-doktorale Wissenschaftlerin am Institut für Kunstgeschichte in Zagreb, Kroatien. Sie gehört zu den führenden Expert*innen auf dem Gebiet der Denkmäler und Erinnerungspolitik im sozialistischen Jugoslawien.
Ihre Projekte
Sie ist Fachberaterin der Ausstellung „Toward a Concrete Utopia: Architecture in Yugoslavia, 1948–1980“ (MoMA, 2018). Und Co-Herausgeberin einer Publikation über jugoslawische Denkmalproduktion (Archive Books, 2019).
Inwiefern?
Heute bekommt man an der Uni meist nur befristete Verträge. Sie aber war nach ihrem Abschluss in der Fakultät beschäftigt, an der sie ein Leben lang blieb. Sie war alleinerziehende Mutter und musste keine Angst haben, den Job zu verlieren. Sie ist auch viel gereist, zu Konferenzen. Dann hat sie Geschenke mit nach Hause gebracht, aus Deutschland oft Schokolade. Das war wie ein Fenster zu einer anderen Welt.
Sie sind Historikerin und auf Erinnerungskultur spezialisiert: Derzeit forschen Sie zu antifaschistischen Mahnmalen, die von der Generation Ihrer Großeltern errichtet wurden.
Ja, der Vater meiner Mutter war bei den Partisanen. Zunächst wurde er als Junge für die Domobrani-Miliz rekrutiert, die Armee Kroatiens, das damals ein Marionettenstaat Nazideutschlands war. Er wurde in einen Zug nach Deutschland gesetzt, wo er arbeiten oder in der Armee dienen sollte, das war nicht klar. Zusammen mit ein paar anderen ist er aus dem Zug gesprungen, noch in Kroatien. Sie kannten sich in der Gegend aus, haben sich in den Wäldern durchgeschlagen. Dort kamen sie mit Partisanen in Kontakt. Mein Großvater war dann als Kurier tätig. Später, nach dem Ende des Krieges wurde er Mitglied der kommunistischen Partei. Und blieb es.
Was war er für ein Mensch?
Ein Klempner. Er sprach nicht viel über den Krieg, aber für mich war immer klar, dass er auf der richtigen Seite gestanden hatte. Meine Familie väterlicherseits war serbisch, viele wurden von kroatischen Faschisten umgebracht. Auch in der Familie meiner Großmutter nahe der slowenischen Grenze gab es meines Wissens keine Faschisten. Also in dieser Hinsicht auch keine Konflikte.
In anderen Familien gibt es diese Konflikte bis heute?
Allerdings, ja.
Die Mahnmale der Nachkriegszeit, zu denen Sie arbeiten, wer hat die errichtet?
Meistens lokale Initiativen, angeführt von ehemaligen Partisanen. Veteranen also, oft zusammen mit den Jugendorganisationen. Diese meist kleineren Monumente kann man überall sehen, in den Dörfern, an Landstraßen. Und dann gibt es die größeren Mahnmale, die an Schlachten und große Persönlichkeiten erinnern, die wurden dann von den jeweiligen kommunistischen Parteien, etwa Sloweniens oder Kroatiens, verantwortet. Es gibt aber auch solche, die von Belgrad aus zentral organisiert wurden.
Sozusagen Titos Mahnmale, also solche, die vom Staatsführer Ex-Jugoslawiens in Auftrag gegeben wurden?
So liest man das heute in touristischen Prospekten. Tatsächlich war Tito kaum mit diesen Mahnmalen befasst, schon gar nicht in Bezug auf die Architektur oder Ästhetik. Sie waren ihm aber auch nicht egal, denn schließlich bildeten der antifaschistische Kampf und die sozialistische Revolution die Grundfesten des Staatswesens.
Die Mahnmale waren also ein Bestandteil jugoslawischer Identität?
So wie Mahnmale überall auf der Welt Bestandteil der nationalen Identität sind. Besonders sind sie eigentlich nur architektonisch.
Inwiefern?
Insofern, als der Kultur in Jugoslawien nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin 1948 größere Freiräume zugesprochen wurden. Ab den Fünfzigern genossen Künstler und Architekten eine vergleichsweise Autonomie – und so konnten sie experimentieren, auch im Hinblick auf die Mahnmale. Gleichzeitig gab es auch heftige Debatten, was die Abkehr von Stalin für die Kulturproduktion bedeuten sollte – und welche Rolle Kunst und Kultur in der jugoslawischen Gesellschaft spielen soll.
Und?
In gewisser Weise blieb das immer eine offene Frage.
Die Monumente stoßen heute wieder auf ein größeres Interesse. Was passierte mit ihnen nach der Desintegration Jugoslawiens?
Das hängt von der Region ab. In Kroatien etwa gab es einen fünf Jahre währenden Krieg, der in Gegenden mit gemischter ethnischer Bevölkerung ausgetragen wurde. Dort wurden die Mahnmale meistens zerstört. Aber auch da, wo es kaum Kriegshandlungen gab, in Zagreb oder Split, wurden sie als Symbole der alten Ordnung beseitigt, obwohl sie im Vergleich mit anderen Ländern weniger affirmativ gegenüber dem kommunistischen System waren. Sie waren eher den Helden und Opfern des Krieges gewidmet.
In Slowenien dagegen sind die meisten Mahnmale intakt.
Ja, weil sich die slowenische Staatswerdung Anfang der Neunziger auf den Sieg der Partisanen über den Faschismus bezogen hat – während man in Kroatien versuchte und noch immer versucht, sich auf das faschistische Kroatien zu berufen, also das sogenannte „unabhängige Kroatien“. Unter diesem nationalistischen Gesichtspunkt wurde dann jede Form von Antifaschismus verdächtig. Man kann das vergleichen mit der Debatte um das Grab von Franco in der Spanien.
Das zugleich ein Massengrab ist, für Tote beider Seiten des Spanischen Bürgerkriegs.
Einige hochrangige Politiker Kroatiens haben gesagt, dass sie sich durch Francos Grab inspiriert fühlen – man kippt einfach alle Knochen zusammen und dann ist Ruhe. Das ist zum Glück nicht passiert. Stattdessen hat man die Gebeine der Partisanen komplett vergessen, teilweise wurden ihre Überreste sogar zerstört.
Keiner kümmert sich um die Gräber?
Man muss fragen: Wer sind die Agenten dieses Vergessens? Und wem wiederum gehört dieses Erbe? Wenn man nämlich mit den Menschen vor Ort spricht, merkt man, dass es in fast jeder Familie Erinnerungen gibt. Und eine Wertschätzung der Monumente.
Dann könnte man die Monumente doch wieder aufbauen.
Das ist eben nicht so einfach, wenn etwas bereits zerstört wurde. Ein solcher Wiederaufbau wäre auch so etwas wie eine aktives politisches Bekenntnis, das ist eine hohe Hürde. Und ohnehin gibt keine Fördermittel.
Also muss sich die Zivilgesellschaft kümmern?
Ja. Da stimmt mich die neue Aufmerksamkeit für die Mahnmale ein wenig optimistischer. Auch im Ausland gibt es nun Leute, die sie als Teil ihres Erbes betrachten und entsetzt reagieren, wenn Symbole des antifaschistischen Kampfs zerstört oder infrage gestellt werden – auch übrigens, indem man sie als hohle Sensationen behandelt.
Was so passiert ist: Raves wurden dort schon veranstaltet. Jüngst wurde ein Reality-TV-Beitrag für die deutsche Brauerei Beck’s im Umfeld des Mahnmals von Petrova Gora, südlich von Zagreb, der Hauptstadt, gedreht. Und eine deutsche Produktionsfirma, Wiedemann & Berg, dreht dort nun für eine Netflix-Serie namens “Tribes of Europe“.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer brutalistische Architektur
Ich bin durch Zufall drauf gestoßen, als ich mit amerikanischen Schülern dort hinwollte. Ich sah zunächst, dass der Müll weggeräumt war – und dachte gleich: Das bedeutet nichts Gutes. Im Gebäude traf ich dann auf Arbeiter, die uns verscheuchen wollten, weil das Gelände privat sei. Ich erfuhr von ihnen, dass eine deutsche Produktionsfirma hier drehen wolle. Mittlerweile ist das Mahnmal komplett für die Öffentlichkeit gesperrt, im Erdgeschoss hängen Schilder: „Cast only“.
Reklame für deutsches Bier vor antifaschistischem Mahnmal, Netflix-Entertainment …
Scheinbar hat der Bürgermeister der Gemeinde der Produktionsfirma die Schlüssel gegeben. Bei der Liegenschaft handelt es sich aber um ein geschütztes nationales Kulturgut, es müssen also bestimmte Auflagen beachtet werden, besonders im Fall einer kommerziellen Nutzung. Der Bürgermeister hat sich wohl gedacht, dass der Spot die Gegend bekannter machen kann. Er hat nicht mal Geld verlangt für die Kulisse. So läuft das hier.
Eine immerhin weltberühmte Kulisse, seitdem Petrova Gora in der Ausstellung über jugoslawische Architektur im Museum of Modern Art, dem MoMA, in New York gezeigt wurde.
Seitdem will jeder das sehen. Aber schon vorher wurde auch eine Sonnenbrillenwerbung am Mahnmal von Jasenovac produziert. Richtig jedoch ist, dass das kroatische Ministerium für Kultur nach der MoMA-Ausstellung nicht weiß, wie es sich verhalten soll. Petrova Gora ist jetzt eine Art heiße Kartoffel, sie müssten eigentlich was tun, aus politischen Gründen wollen sie aber nicht.
Es werden schon Reisen zu den „Spomenik“, den Denkmälern, angeboten.
Der Hype setzte schon vor der Ausstellung ein. Es fing mit dem Fotoprojekt des Belgiers Jan Kempenaers an, „Spomenik“ heißt seine Arbeit, Fotografien jugoslawischer Monumente. Die wurden im Netz sehr populär. Das Problem: Er hat die Mahnmale nur durchnummeriert. Sie haben keine Namen – es wirkt, als hätte er bizarr geformte Blumen fotografiert. Andere sagen sogar, das sei eine koloniale Herangehensweise: Oh guck, hier ist was Seltsames und wir haben nicht mal einen Namen dafür, wie wäre es mit Känguru? Es ist zwar nur eine Fotoarbeit. Aber die hat viele Abenteuerurlauber auf den Plan gerufen. Huhu, da gibt es was Seltsames zu entdecken auf dem Balkan.
Es gibt aber längst eine Website, die sämtliche Mahnmale verzeichnet, sie heißt „Spomenik Database“.
Sie wird von einem amerikanischen Biologen betrieben. Er schätzt die Mahnmale. Aber zugleich irritiert mich seine Haltung, so von oben herab: Ihr habt hier etwas Besonderes und seid nicht in der Lage, euch darum zu kümmern. Er durchdringt zwar nicht die politischen Zusammenhänge, die zu der heutigen Situation der Mahnmale geführt haben, wohl aber weiß er, wie man mit ihnen Geld verdienen kann.
Ist das nicht auch eine Art Erinnerungskultur?
Nein, es ist eine weitere, originellere Variante des Tourismus. Dabei handelt es sich doch um Mahnmale, die an historische Ereignisse erinnern, die noch nicht so lange zurückliegen. Und oft handelt es sich auch um Grabanlagen, es gibt Hinterbliebene, die noch leben. Holocaust-Mahnmale werden doch auch nicht als Sensation vermarktet.
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist eine Attraktion, Leute machen Selfies, turnen darauf herum.
Es verfällt aber nicht. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn es einen gesteuerten Tourismus gäbe und dafür ein Teil der Einnahmen in die Erhaltung und politische Aufklärungsarbeit flösse.
Wer wäre denn verantwortlich? Das kroatische Ministerium für Kultur?
Dort zeigte man ja nicht einmal Interesse, als ich sagte, dass wir drei Monumente im MoMA zeigen, die auf kroatischem Territorium stehen.
Das Ministerium kümmert sich gar nicht?
Ich weiß nur, dass es eine Art internen Revisionprozess gibt, bei dem es darum geht, die Anzahl der schützenswerten Denkmäler aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu reduzieren. Die zuständige Kommission ist ausschließlich mit rechten Kunsthistorikern besetzt.
Hat die MoMA-Ausstellung also gar keinen Effekt? Immerhin wissen nun mehr Menschen auf der Welt, dass es Jugoslawien überhaupt gab.
Das stimmt. Die Ausstellung hat dazu beigetragen, das modernistische architektonische Erbe Jugoslawiens zu bewahren – bezüglich der Erinnerungskultur hatte sie aber keinen Einfluss. Andererseits sind wir, die Experten aus anderen ehemaligen Teilrepubliken durch die New Yorker Ausstellung miteinander ins Gespräch gekommen. Im November trafen wir uns anlässlich der Piran Days of Architecture in Slowenien. Es geht darum, herauszufinden, was diese Monumente bedeuten und was wir zu ihrer Bewahrung beitragen können.
Frau Horvatinčić, zuerst fragten wir nach Ihrer Erinnerung – was aber würden Sie gerne in Zukunft erleben?
Ich wünsche mir, dass die Mahnmale endlich einen angemessenen Platz in der Kunstgeschichte finden. Es geht dabei um Bedeutungen, die bis in das Heute reichen. Häufig muss ich an ein Mahnmal denken, das an ein Partisanen-Krankenhaus erinnert, hier in Kroatien. Für mich ein Symbol der Fürsorge und Solidarität. Dort hatte man sich während des Krieges auch um die zahlreichen Flüchtlinge gekümmert. Dieses Monument liegt in der Nähe zur Balkanroute. Wenn wir wollen, dass die Leute eine menschliche Haltung gegenüber den Flüchtlingen entwickeln, dann hilft es vielleicht, wenn wir sie daran erinnern, dass viele von ihnen auch einmal Minderheit waren und fliehen mussten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus