Historiker Rödder über die Union: „Das Drama der CDU ist komplex“
Der Historiker Andreas Rödder ist Kenner der CDU und selbst Mitglied. Ein Gespräch über die Merkel-Nachfolge und die Chance auf Erneuerung in der Opposition.
taz: Herr Rödder, warum hat die CDU die Wahl verloren?
Andreas Rödder: Die Methode Merkel ist an ihr Ende gekommen. Merkel hatte die CDU nach links gerückt, den Grünen und der SPD damit die Luft zum Atmen genommen und Stimmen abspenstig gemacht hat. Das hat nicht mehr funktioniert.
Klar. Merkel ist ja nicht mehr angetreten.
Ja, aber Armin Laschet hat versucht, diesen Kurs von Konsens, Konfliktvermeidung und Vertrauen zu kopieren. Ich habe am Anfang sogar gedacht, das könnte funktionieren, weil es ein Sicherheitsbedürfnis nach der Pandemie bedient. Aber als das Vertrauen erschüttert wurde, war klar: Dahinter ist nichts. Die Union hat im Wahlkampf keine eigenen Themen gesetzt.
Nehmen wir mal an, es stimmt, dass Angela Merkel die CDU dem linksliberalen Zeitgeist angepasst und programmatisch entkernt hat. Aber sie war damit doch erfolgreich …
Na ja, was heißt erfolgreich? Die Union hat die Regierung gebildet. Das sollte man nicht geringschätzen. Aber das hatte seinen Preis: Auf der rechten Seite hat sich die AfD etabliert und die Union hat zwischen 2002 und 2017 ein Sechstel der Stimmen verloren. Und jetzt hat sie keinen Koalitionspartner mehr.
Ohne die Anpassung an die gesellschaftliche Realität wäre die CDU noch früher abgestürzt, so wie konservative Parteien in anderen europäischen Ländern.
Das sagen die Verteidiger von Merkel, wie der Wahlforscher Matthias Jung. Aber das ist schwer zu bemessen. Was man sagen kann: Die derzeitige inhaltliche Orientierungslosigkeit ist der Preis für die letzten sechzehn Jahre.
ist Professor für Neueste Geschichte in Mainz und derzeit Gastprofessor an der Johns Hopkins University in Washington. Er ist CDU-Mitglied und dem liberal-konservativen Flügel zuzurechnen. Gerade hat er mit Ex-Familienministerin Kristina Schröder die Denkfabrik R21 vorgestellt.
Aber waren diese Modernisierungen – Stichworte: Wehrpflicht, Atomausstieg und Ehe für alle – nicht typisch konservative, nämlich situative, unideologische Entscheidungen? Ist das Bild von Angela Merkel als Agentin des Linksliberalismus in der CDU nicht doch etwas krude?
Richtig, sie hat situativ regiert. Man kann für die Aufhebung der Wehrpflicht oder den Ausstieg aus der Atomkraft ja gute Argumente vorbringen. Ich würde auch nicht sagen, dass Merkel die Agentin des Linksliberalismus in der CDU war. Aber wofür sie nie einen Sinn gehabt hat, ist der soziale, kulturelle Unterbau der CDU. Generationen von Christdemokraten haben in Brokdorf, Gorleben und an der Startbahn West auf der anderen Seite als die Friedens- oder die Umweltbewegung gestanden. Das sind für die CDU Identitätsthemen, so wie sie es für die Grünen auf der anderen Seite sind.
Welche Lehren muss die CDU jetzt ziehen?
Die Union erlebt mit der Ära Merkel manches spiegelbildlich, was die SPD mit Gerhard Schröder und der Agenda 2010 erlebt hat. Und die SPD hat lange daran laboriert, sich wieder mit sich selbst zu versöhnen. Das ist für die Union mittelfristig das Wichtigste. Sie muss die Hälfte, die gegen Kramp-Karrenbauer und Laschet und damit gegen Merkel gestimmt haben, wieder einbeziehen. Aber sie darf auch kein Scherbengericht über die Ära Merkel halten. Diese Hälfte muss sie auch mitnehmen.
Können das die drei Kandidaten für den CDU-Vorsitz?
Das Drama der CDU ist komplex. Interessanterweise hat Helge Braun signalisiert, dass Friedrich Merz eine wichtige Rolle in der CDU spielen sollte. Und Merz hat mit der Nominierung von Mario Czaja als Generalsekretär zu Verstehen gegeben, dass er die CDU in ihrer Breite adressieren wird.
Heißt das, Braun und Merz könnten das?
Ich könnte hinzufügen, dass Norbert Röttgen dies mit der Auswahl seiner Generalsekretärin ja auch gemacht hat. Sie nennt sich konservativ. Ich glaube schon, dass alle drei die Notwendigkeit erkannt haben.
Aber können sie es auch?
Das ist, bevor es losgeht, immer schwer zu sagen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Merz und Röttgen gelten als Solisten, als Männer, die sich selbst extrem wichtig nehmen und keine Teamspieler sind.
Dass sie dieses Image haben, steht außer Frage. Aber sie wissen, dass Teamfähigkeit jetzt absolut notwendig ist. Die Frage ist, wer diese Einsicht auch in konkretes Handeln übersetzen kann. Merz hat realisiert, dass er beim dritten Versuch mit einem anderen Rollenmodell antreten muss.
Ihre Stimme geht also an Friedrich Merz?
Die Frage ist, ob ich jetzt als CDU-Mitglied rede oder als Beobachter der Situation. Als Beobachter würde ich sagen, es gibt die Notwendigkeit zu realisieren, dass er diesen Neuaufbruch der CDU moderieren muss. Als CDU-Mitglied würde ich sagen, dass ich die Hoffnung habe, dass er das kann.
Die FDP kann sich in der Ampel künftig als die Kraft der bürgerlichen Mitte etablieren. Ist das gefährlich für die Union?
Die Gefahr ist da. Wie gut eine solche Inszenierung funktioniert, kann man ja in Rheinland-Pfalz beobachten, wo die CDU keinen Fuß auf den Boden bekommt. Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen FDP und CDU seit 2013 belastet ist. Diese alte Gewissheit, dass man wechselseitig der natürliche Koalitionspartner ist, die gibt es nicht mehr.
Die Union ist jetzt mit der AfD in der Opposition. Sehen Sie Gefahr, dass sie in dieser Konkurrenz zu schrill wird?
Die Union muss sich von der AfD unabhängig machen. Sie hat schon verloren, wenn sie wie das Kaninchen vor der Schlange sitzt. Wenn sie meint, sie müsse sich Positionen der AfD anverwandeln. Aber auch, wenn sie meint, dieses oder jenes nicht sagen zu dürfen, weil das auch von der AfD kommen könnte. Das einzige, was der Union hilft, ist selbstbewusst aus eigenen Prinzipien und Grundwerten heraus politisch unterscheidbare Positionen zu entwickeln und zu vertreten.
Sie haben jüngst mit der ehemaligen Familienministerin Kristina Schröder ihre neue Denkfabrik R21 vorgestellt, die helfen soll, den Konservatismus zu erneuern. Susanne Schröter hat dabei das Thema Migration präsentiert und in einem relativ kurzen Statement viele Begrifflichkeiten untergebracht, die mit der AfD kompatibel sind: abgeschottete Milieus, Rassismus gegen Weiße, Zuwanderung bringt uns an die Grenze der politischen Handlungsfähigkeit …
Der Oberbegriff unserer Initiative ist „Einwanderungsgesellschaft mit weltoffenen Patriotismus“. Natürlich sind wir eine Einwanderungsgesellschaft geworden, und diese Einwanderungsgesellschaft muss man realistisch analysieren und konstruktiv adressieren. Dabei Begriffe zu verwenden, die auch AfD-Leute verwenden würden, gehört nach meinem Dafürhalten zu einer souveränen intellektuellen Analyse der Situation. Aber wenn man konstruktive Perspektiven bezieht, entsteht keine Verwechselbarkeit mit dem schlecht gelaunten Ressentiment der AfD.
Machen Sie damit nicht den Diskurs der AfD salonfähig?
In dem Moment, wo man sich immer die Frage stellt, was die AfD daraus machen könnte, werden Sie politisch unfrei und können Probleme nicht mehr konstruktiv adressieren. Da haben sie schon begonnen, das politische Feld zu räumen und ein Vakuum zu erzeugen, in das dann die AfD erst recht einströmen kann.
Mit welchen Themen jenseits von Migration sollte sich die Union in der Opposition profilieren?
Die Union muss zu sozialer Gerechtigkeit, einer marktwirtschaftlichen, global denkenden Klimapolitik und zur Einwanderungspolitik eigene Positionen entwickeln. Aber zuletzt hat der Partei Intellektualität und Wille gefehlt. Deshalb wird sie auch als langweilig und uninspiriert angesehen – und von jungen Wählern als uninteressant abgelehnt. Deswegen muss die CDU mit dem Mantra der Geschlossenheit aufhören. Das ist ein Synonym für Friedhofsruhe.
Also mehr Diskurs und Streit?
Ja, und damit das Image entwickeln, dass in der Partei intellektuell was los ist.
Die Union ist nun das dritte Mal nach einer sehr langen Regierungszeit in der Opposition. In den 1970ern ist sie unter Kohl zu einer modernen Massenpartei geworden. Braucht es eine vergleichbare Reform?
Die 70er Jahre waren intellektuell die besten Jahre der Union. Der junge Kohl war wirklich ein dynamischer Parteireformer, der intellektuell gute Leute an sich gezogen hat: Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Warnfried Dettling. Nach 1998 hatte Wolfgang Schäuble einen solchen Erneuerungsprozess im Grunde auch wieder angestoßen. Dass dieser abgebrochen wurde, ist das eigentliche Drama der Parteispendenaffäre. Angela Merkel hatte dann als Parteivorsitzende alles andere zu tun, als einen ergebnisoffenen Selbstbesinnungsprozess in Gang zu setzen. Der ist für die Union dafür jetzt dringend notwendig.
Herbert Wehner hat der SPD 1982 gesagt, die Opposition könne fünfzehn Jahre dauern. Wie lange wird sie für die Union?
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Union bei der nächsten Wahl eine realistische Chance hat. Es ist aber ebenso wenig ausgeschlossen, dass sie länger in der Opposition ist. Deshalb ist es klug, den Neuaufbau der Union als langfristige Investition in die Zukunft zu begreifen.
Anmerkung der Redaktion: In einer früherer Version dieses Interviews war zu lesen, dass Norbert Röttgen Serap Güler als Generalsekretärin vorgeschlagen hat. Das ist falsch. Dieser Fehler wurde von der Redaktion bedauerlicherweise Andreas Rödder in einer Antwort hinein redigiert. Wir entschuldigen uns bei Professor Rödder für dieses Versehen.
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