Hilfsgüter in der Ukraine: Essen bekommt, wer mitgebetet hat
Auch in Kiew sind die Lebensmittelpreise gestiegen. Von dem Krieg profitieren Einzelhandel und Kirchen, beobachtet der taz-Korrespondent.
Das Lebensmittelproblem
Meine Kiewer Nachbarin Nadja ist gut drauf. „Schon drei Tage kein Luftalarm“, begrüßt sie mich freudig. Und da sie vor kurzem 75 Jahre alt geworden ist, hat sie eine kräftige Rentenerhöhung erhalten. Nun sind es nicht mehr 1.800 Hrywnja, sondern 2.500 jeden Monat. Umgerechnet 70 Euro. Und dann traue ich meinen Augen nicht. Das ganze Wohnzimmer ist voller Lebensmittel: Nudeln, Mehl, Sonnenblumenöl, Fleischdosen, Zucker, Süßigkeiten und Salz stapeln sich dort.
Ja, die Lebensmittel sind im Krieg teurer geworden, sagt Nadja. Für ein Kilo Buchweizen bezahlt man nun nicht mehr 17 Hrywnja, sondern 100. Zwiebeln haben sich von 7 Hrywnja das Kilo auf 22 Hrywnja verteuert, Rüben von 6 auf 30 Hrywnja. Zehn Eier kosten nun nicht mehr 18 Hrywnja, wie vor dem 24. Februar, als der Krieg begann, sondern 35 Hrywnja und junge Kartoffeln nicht mehr 12, sondern 35 Hrywnja das Kilo.
Von der humanitären Hilfe komme bei der Bevölkerung jedoch nur wenig an. Vieles davon lande direkt in den Geschäften.
„Aber wie wollen Sie erkennen, dass beispielsweise rumänische Nudeln, die im Supermarkt verkauft werden, von Hilfslieferungen kommen?“, frage ich Nadja. „Es hat in ukrainischen Lebensmittelgeschäften doch schon immer ausländische Ware gegeben.“
Auf allen Lebensmittelverpackungen, die für den ukrainischen Handel bestimmt sind, müsse ein kurzer Text in ukrainischer Sprache stehen, erklärt mir Nadja. „Und wenn man ein Produkt in die Hand nimmt, das ausschließlich in rumänischer oder deutscher Sprache beschriftet ist, dann kann man davon ausgehen, dass es von der humanitären Hilfe stammt.“
Aber sie wisse sich zu helfen. Jeden Samstag und Sonntag gehe sie in Gottesdienste. In jüngster Zeit seien viele neue Kirchengemeinden entstanden, meistens sind es Evangelikale und Pfingstgemeinden. Und da bekomme man immer eine ganze Tragetasche voller Lebensmittel – „wenn man mitgebetet hat“. Den Kirchen vertraut sie, die würden humanitäre Hilfe kostenlos verteilen. Natürlich können sie und ihre Tochter das nicht alles selber essen. Aber zum einen brauche sie einen großen Vorrat, zum anderen versorge sie auch ihre Freundinnen.
Wer viel Essen hat, habe auch viele Freunde. Und überleben kann in dieser Zeit nur, wer Freunde hat, sagt Nadja.
Eine von Nadjas Freundinnen hat eine Tochter, die als Krankenschwester arbeitet. Und so ist sie immer gut informiert, wo man gerade am besten Medikamente bekommt.
Eine andere lebt auf dem Land und schickt ihr ab und zu ein Paket, mal mit Knoblauch, mal mit Kartoffeln.
Wieder eine andere, Mascha, ist gerade bei Nadja in der Wohnung untergekommen. Sie ist vor kurzem aus Isjum geflohen, einer Stadt in Gebiet Charkiw. Die haben die Russen nun besetzt. Jetzt habe sie nicht einmal telefonischen Kontakt zu ihrer Mutter, erzählt Mascha. Die Russen hätten sofort ein eigenes Telefonnetz eingerichtet. Und sie wisse nicht, wie sie da jetzt anrufen könne. Das Internet funktioniere dort nicht, erklärt sie, alles sei dem Erdboden gleichgemacht worden. Deswegen könne man nur in Kellern leben. Auch Renten würden die Russen nicht bezahlen.
Die Gottesdienste
Für Samstag und Sonntag lädt Nadja mich in zwei Gottesdienste ein, damit ich mit eigenen Augen sehen könne, wie viele Hilfsgüter die Kirchen verteilen. Der Samstags-Gottesdienst, ausgerichtet von „Der neuen Generation“, findet im „Christlichen humanitären Zentrum“ im Kiewer Stadtteil Darniza statt.
Ungefähr 300 Gläubige haben sich im Gebetssaal eingefunden. Hier sind alle Gesellschaftsschichten vertreten. Auf der Bühne spielt eine Band Rockmusik, ohrenbetäubend laut. Eine junge Frau betritt die Bühne. Sie singt viel von Jesus Christus. Gleichzeitig stampft sie im Takt der Bassgitarre und ruft „Halleluja!“. Rhythmisch geht der Saal mit, viele tanzen, heben die Hände hoch, rufen: „Jesus, erbarme dich!“ Es ist eine Mischung aus Kirche und Diskothek.
Nach 30 Minuten Rockmusik tritt ein Redner ans Pult. Er spricht zuerst leise. Niemand versteht, was er sagt. Russisch ist es nicht, Ukrainisch auch nicht. Er lässt sich nicht beirren, redet beharrlich in seinem Kauderwelsch weiter. Dann wird die Band leiser und leiser, der Mann dagegen immer lauter. Nun spricht er Russisch. „Unser Thema heute ist das Opfern“, sagt der Prediger. Gleichzeitig wird an der Wand eine Kontonummer eingeblendet. Nur wer bereit sei, Opfer zu bringen, könne auf Jesus zählen. Er wird immer lauter, schreit fast ein auf die Menge, die zunehmend in Ekstase gerät.
„Erst vor einigen Tagen sind ukrainische Kriegsgefangene freigekommen. Einer von ihnen war ein Mitglied unserer Gemeinde. Das beweist doch, dass unsere Gebete von Gott erhört werden, unsere Opfer nicht umsonst waren“, ruft er.
„Amen.“
Der Prediger holt einen kleinen Jungen zu sich auf die Bühne. Gemeinsam blicken sie auf eine Frau, die ein Baby in den Armen hält. „Das ist das Kind, für das seine Mutter Anna immer gebetet hatte. Sie hat gebetet, Opfer gebracht und ihr Kinderwunsch ist in Erfüllung gegangen.“
„Amen.“
„Auch die Eltern der Gottesmutter Maria waren zunächst kinderlos“, sagt der Prediger. „Doch dann war Anna, die Mutter von Maria, bereit zu opfern, und hat ein Kind geboren. Anna, die Mutter von Maria, hat für ein Kind gebetet, hat genauso wie unsere Anna hier Opfer gebracht, Gott um ein Kind angefleht“, spricht er weiter.
Im Hintergrund setzt beruhigende Klaviermusik ein.
„Opfer lösen alle Probleme auf dieser Welt, in deinem Leben, bringe Jesus Christus dein Opfer.“
Nur einer wolle uns hindern, Opfer zu bringen: der Teufel. „Doch wir müssen an unseren Sieg glauben. Und wir werden siegen, im Kampf für Christus und an der Front gegen den Aggressor“, so sagt es der Prediger in den Gebetssaal hinein.
Am Ende des zweistündigen Gottesdienstes stürmen alle aus der Kirche. Vor dieser steht ein Wagen mit Lebensmitteln. Zwei Kilo Mehl, ein Kilo Zucker, zwei Gläser Hühnerfleisch und ein Kilo Reis nimmt Nadja mit nach Hause.
Wer betet, wird versorgt
Sonntagvormittag, elf Uhr. Mehrere Busse bringen die Gläubigen aus allen Stadtteilen kostenlos zur Kirche Peremoga („Der Sieg“). Diese Kirche ist um das Zehnfache größer als die „Neue Generation“. Im Bus werden die Gläubigen von einer freundlichen Rentnerin begrüßt. Gemeinsam wird gebetet. Dann hält die Frau blaue Gutscheine in die Höhe. „Jeder von euch erhält nun einen Gutschein. Bitte bewahrt diesen gut auf. Ihr betet heute zu Jesus und Jesus sorgt auch für euer leibliches Wohl. Nach dem Gottesdienst erhaltet ihr hier im Bus eine Tragetasche mit Lebensmitteln.“
Diese Kirchengemeinde ist Besitzerin einiger Gebäude. Und in dem größten Gebäude des Areals am Stadtrand von Kiew, das unter anderem eine Bibliothek, einen Betreuungsort für Kinder und ein Café beherbergt, befindet sich ein großer Saal mit einer stattlichen Bühne.
Zwei Fernsehkameras sind von einer erhöhten Plattform in der Mitte des Saals auf die Bühne gerichtet. Mehrere Tausend Menschen sind im Saal. Jeden Sonntag finden zwei Gottesdienste mit so vielen Besuchern statt. Auch hier wieder wird man mit ohrenbetäubender Rockmusik begrüßt. Und auch hier wird wieder eine Kontonummer an der Wand eingeblendet. Die Kirche möchte einen eigenen Tempel bauen. Dafür braucht man Geld, viel Geld.
Besonders begrüßt werden alle, die zum ersten Mal hier sind. Sie werden auf die Bühne gebeten, erhalten als Geschenk eine Thermotasse – und werden gleichzeitig gebeten, ihre Kontaktdaten zu hinterlassen.
Schließlich betritt „Pastor Henry“ die Bühne. Er ist vor knapp 30 Jahren aus Simbabwe in die Sowjetunion gekommen und lebt seitdem in der Ukraine. Er spricht akzentfrei Russisch und Ukrainisch. Er ist gut aufgelegt, macht viele Witze. Nadja hat ihn in ihr Herz geschlossen. „Pastor Henry ist sehr erfolgreich. Seine Kinder studieren in den USA“, sagt sie.
Auch Pastor Henry spricht von Opfern. Nur wer bereit sei, Opfer zu bringen, könne Jesus näherkommen. Man kann ihm gut zuhören, wie er da so ungezwungen und mit freundlichem Lächeln von Christus erzählt. Dank seiner sympathischen Art vergeht die Stunde seiner Predigt fast wie im Flug. Er ist einer, mit dem man gerne befreundet wäre.
Dankbar nehmen am Ende viele seine Einladung an, ebenfalls auf die Bühne zu kommen. Es sei ihm ein Anliegen, Gläubige von ihren Krankheiten und Sorgen zu befreien, sagt er. Mehrere kommen zu ihm hinauf. Lassen sich die Hände über den Kopf halten, und hoffen, dass er sie so von ihren Nöten befreit. Diabetiker könnten angeblich wieder normal essen, ein Augenkranker bald wieder sehen. Schade nur, dass die Blitzgenesung erst eintreten soll, wenn alle wieder zu Hause sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen