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Krieg in der Ukraine12 Stunden zittern

Das Warten an der ukrainisch-polnischen Grenze hat System. Wer nicht durchblickt, bleibt zurück. Ukrainische Männer trennen sich von ihren Familien.

Autoschlange auf dem Weg zum Checkpoint Shehyni, um die ukrainisch-polnische Grenze zu überqueren Foto: Pavlo Palamarchuk/imago

Lwiw taz | Wie ein Speisesaal wirkt der Bahnhof von Lwiw. Mineralwasser, geschmierte Brote, dampfende Suppentöpfe auf den Tischen in der Bahnhofshalle und überall viel Lärm. Doch niemand hält sich lange in dieser Suppenküche auf. Alle drängen nach draußen, mit so viel Gepäck, wie sie tragen können. Auch dort herrscht Suppenküchenatmosphäre, Rauch steigt auf von den riesigen Töpfen auf dem Bahnhofsvorplatz.

Ich werde von zwei Frauen, Halina und ihrer Tochter Olga, abgeholt. Sie bieten mir ein wunderbares Essen an, lassen mich duschen und bringen mich dann mit ihrem Auto an die polnisch-ukrainische Grenze.

Bei der Fahrt durch die Stadt Lwiw fällt auf, dass es hier entspannter zugeht als in Kiew. Einige Geschäfte, ja sogar Restaurants, sind offen, die Stimmung ist nicht so depressiv. „Noch wird bei uns nicht geschossen“, sagt Olga. „Aber schon in einer Woche kann das anders sein.“

Überall an Straßeneinfahrten haben sich Bewaffnete verbarrikadiert – hinter Burgen aus weissen Sandsäcken. Man bereitet sich auf Straßenkämpfe vor. Gleichzeitig bringen häufige Checkpoints, Straßensperren und Wagenkontrollen den Verkehr in Lwiw und Umgebung zum Erliegen. Aus dem Autoradio kommen unablässig Warnungen vor einem möglicherweise bevorstehenden Luftangriff. Seltsame Männer liefen in der jüngsten Zeit durch die Stadt, sagt Olga, die Englisch-Lehrerin. Die seien keine Einheimischen und machten ihr Angst.

Nur 12 Stunden warten

Wir nähern uns der Grenze. „Da haben Sie aber Glück gehabt. Am Samstag war die Schlange der Wartenden zehn Kilometer länger. In 12 Stunden haben Sie das hinter sich“, sagt sie. Und sie wird Recht behalten, hätte vielleicht aber noch hinzufügen können, dass die Nacht wieder kalt werden würde.

Aber auch das Warten an der Grenze hat seine Tücken. Ich stehe in der Kälte und sehe, dass es nicht vorangeht, irgendwie scheinen sich einige Leute immer mit den Grenzern zu einigen, kommen zügig voran, nur ich nicht. Doch dann zeigt sich, dass das Warten in Gruppen organisiert ist.

Ich war wohl zunächst in der „falschen“ Gruppe, bei den Pakistanern. Und als ich mich bei deren Wortführer darüber beschwere, dass ich gar nicht an die Reihe komme, beschwert dieser sich über mich und fordert, ich solle seine Gruppe verlassen. So läuft das also.

Dann muss ich mir eben eine andere Gruppe suchen. Ich entscheide mich für die Mütter mit Kind. Und nun läuft das Spiel. Diese Gruppe wird bevorzugt bedient. Man kommt sich schon etwas seltsam vor, wenn man als Mann mitten in einer Gruppe von hundert Frauen steht, die ihre Kinder an der Hand halten.

Angst und Einsamkeit

Bis zur Grenze sieht man vereinzelt auch Männer in der Gruppe. Doch die gehen kurz vor der Grenze wieder. Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht verlassen. Sie fahren zurück in ihre Wohnung, wo sie die nächsten Tage ohne Frau und Kinder mit ihrer Angst und Einsamkeit alleine fertig werden müssen.

An der Grenze ist auf polnischer Seite alles gut organisiert. Alle werden von der polnischen Caritas mit einem Imbiss empfangen. Dann geht es mit einem Bus weiter Richtung Korczowa, zu einer großen Flüchtlingsunterkunft.

Hunderte von Betten reihen sich hier in einer riesigen Halle aneinander. Und ständig stellen polnische Soldaten neue olivgrüne Klappbetten auf. Männer, Frauen, Kinder – alle haben sie diesen erschöpften Blick. Und ständig kommen weitere Busse von der Grenze und bringen neue Flüchtlinge. Über Lautsprecher wird auf Ukrainisch angesagt, wann der nächste Bus nach Warschau oder Deutschland fährt.

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