Hilfe für Obdachlose: Räumen oder reden?
In Berlin gibt es viele Notunterkünfte für Obdachlose. Trotzdem sind wieder Menschen erfroren. Wann darf man sie zwingen, Hilfe anzunehmen?
Dabei gab es etwa in Berlin noch nie so viel Hilfe für obdach- und wohnungslose Menschen wie heute. Der Berliner Senat unterstützt bis zu 50 Träger der Wohnungslosenhilfe, im Winter öffnen Nachtcafés, Notübernachtungen, Tagesstätten, Treffpunkte, Suppenküchen. Zwischen Oktober und April fahren Kältebusse durch die Stadt, Tausende Berliner*innen haben die Nummer in ihren Handys gespeichert. Zwei U-Bahn-Stationen werden jede Nacht als Kältebahnhöfe offen gehalten. Noch nie gab es so viele Plätze zum Übernachten. Und doch: Menschen sterben.
Warum werden auch heute, trotz zahlreicher Angebote, so viele Menschen nicht erreicht? Wie wären sie zu erreichen? Oder hat Hilfe schlicht Grenzen? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führt zu den Orten, an denen man Obdachlose trifft und Sozialarbeitende versuchen, sie anzusprechen. Und sie führt in das Büro eines Bürgermeisters.
Seit Oktober 2016 ist Stephan von Dassel Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte. Der Grünen-Politiker gilt beim Thema Obdachlosigkeit als rigoros. Vor anderthalb Jahren ließ er ein Zeltlager im Berliner Tiergarten räumen. Im Januar veröffentlichte die taz ein Video von der Räumung eines Obdachlosencamps in der Nähe des Hauptbahnhofs: Eine Frau sitzt da auf einer Bank, die Hände auf dem Rücken gefesselt, auch die Knöchel zusammengebunden. Plötzlich stülpen zwei Polizeibeamte von hinten ein weißes Tuch wie einen Sack über den Kopf der Frau, die erschrickt, aber sich nicht mehr wehren kann. Die Polizist*innen führen sie ab, die Stadtreinigung entsorgt danach ihren Besitz.
Stephan von Dassel,Bezirksbürgermeister Berlin-Mitte
Das Video sorgte für Empörung. „Es ist schon unerträglich, dass Mitte räumen lässt, ohne den Menschen Hilfe anzubieten, aber der Umgang der Polizei ist mindestens genauso unerträglich“, schrieb Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linken auf Twitter. Stephan von Dassel dagegen dankte den Beamten „für ihr umsichtiges und engagiertes Handeln“. Die „katastrophalen Zustände vor Ort“ seien Anlass für „zahlreiche Bürgerbeschwerden“ gewesen.
Das Bild von der an Armen und Beinen fixierten Frau mit dem Tuch über dem Kopf habe auch ihn bestürzt, sagte er damals. Er hoffe aber, dass das „konsequente Handeln des Bezirksamts dazu beiträgt, dass obdachlose Menschen die vorhandenen Hilfen annehmen“. Und er twitterte: „Niemand muss in Berlin draußen schlafen, niemand muss hungern! Es ist nicht sozialer, Menschen draußen in ihrem Elend zu lassen, als sie zur Hilfeannahme zu nötigen.“
Wenige Tage später empfängt er in seinem Büro im zweiten Stock des Rathauses Tiergarten. Von Dassel, Anfang 50, in einem schwarzen Pullover und mit eulenaugenrundem Brillengestell, kommt direkt zur Sache: „Die Wahrnehmbarkeit von Obdachlosigkeit nimmt in Berlin dramatisch zu.“
Welche Ursachen sieht er dafür? „Der angespannte Wohnungsmarkt ist sicherlich ein Teil davon.“ Kündigungen seien einfacher durchzusetzen, Wohnungen dagegen immer schwieriger zu finden. Insbesondere wenn die Referenzen nicht die besten sind – „man kein regelmäßiges Einkommen hat oder gerade aus dem Gefängnis kommt“. Zudem kämen mehr Obdachlose als früher aus Ungarn, Polen und Tschechien nach Berlin.
Die EU-Freizügigkeit sieht vor, dass EU-Bürger*innen sich entscheiden dürfen, in welchem Land sie arbeiten, dass sie aber auch bleiben können, wenn sie zum Beispiel nicht erwerbstätig sind, aber über ausreichende Existenzmittel und eine Krankenversicherung verfügen. Oder auch, wenn sie auf Arbeitssuche sind. In einigen Städten erkennen die Ausländerbehörden die EU-Freizügigkeit immer häufiger ab, wenn die Arbeitssuche unrealistisch erscheint. In Berlin dagegen sei der „Umgang mit der EU-Freizügigkeit von Menschen, die keine Chance auf Arbeit haben, ungeklärt“.
Ein angespannter Wohnungsmarkt, der generelle Zuzug nach Berlin, der Zuzug aus anderen EU-Ländern, die fehlende politische Handhabe, das alles seien Gründe für die Zunahme von Obdachlosigkeit, sagt von Dassel. Und trotzdem sind die Notunterkünfte nicht überfüllt, auch in kalten Nächten bleiben viele Plätze leer.
Warum also nehmen Menschen die vorhandene Hilfe nicht in Anspruch? „So unterschiedlich die Biografien von obdachlosen Menschen sind, so unterschiedlich sind auch diese Gründe“, sagt der Bürgermeister. In den Einrichtungen dürften die Menschen etwa keine Drogen konsumieren und ihren Hund nicht mitnehmen.
„Aber das sind Probleme, die zu lösen wären“, sagt von Dassel und schenkt sich eine Tasse Tee nach. „Andere Ursachen sitzen viel tiefer. Die Statistiken sagen, drei Viertel der Menschen, die auf der Straße leben, sind psychisch krank.“ Ein Beleg ist die „Seewolfstudie“, eine Studie über die Bewohner*innen von Einrichtungen der Wohnungshilfe München. Sie legt nahe: Psychische Krankheit und Obdachlosigkeit hängen miteinander zusammen. Und das in beide Richtungen: Viele landen auf der Straße, weil sie psychisch krank sind. Aber auch das Leben auf der Straße macht krank. 93 Prozent der Befragten sind in ihrem Leben schon einmal psychisch krank gewesen. 74 Prozent brauchen den Ärzt*innen zufolge sogar aktuell eine Behandlung.
Mehr als die Hälfte der Obdachlosen lebt mit einer oder mehreren Persönlichkeitsstörungen. Sie verhalten sich oft antisozial, narzisstisch, leiden unter starken emotionalen Schwankungen oder wirken auf andere Art höchst egozentrisch. Auch wenn Suchterkrankungen die mit Abstand häufigste Erkrankung unter den Wohnungslosen war, war sie nur bei knapp einem Drittel der Befragten die Hauptdiagnose. Bei allen anderen kam sie erst später dazu, oft wohl als Mittel der Betäubung anderer Schmerzen.
„Wir benötigen dringend einen niedrigschwelligen psychiatrischen Zugang zu vielen Obdachlosen“, sagt von Dassel. Er kennt die Studie. Und er kennt auch selbst solche Geschichten: die einer zierlichen schwarzen Frau etwa, die davon überzeugt ist, eigentlich gar nicht schwarz, sondern verzaubert worden zu sein. Zudem sei sie sicher, dass das Rathaus Tiergarten ihr Haus sei, alle anderen es schleunigst verlassen müssten. Oder die Geschichte einer Frau, die gerne Hilfe annehmen würde, aber sich von der CIA bedroht fühlt, sobald sie ins Sozialamt geht.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Mit Menschen wie ihnen wünscht sich von Dassel einen anderen Umgang. „Die Gesellschaft macht es sich zu leicht, wenn sie sagt, das sei der freie Wille der Person, sie hat ein Recht auf ein solches Leben. Ich sage, wenn man so krank ist, hat man keinen freien Willen. Dann ist man getrieben von dem Wahn, den man im Kopf hat.“ Menschen sterben lassen zu müssen, obwohl so viele Kälteplätze vorhanden seien wie nie, findet er paradox. Und schmerzhaft. Dieses „lassen zu müssen“, es sagt schon eine Menge aus über von Dassels Vorstellung, wie Kältetote zu verhindern wären. Der Politiker will mehr Zwang, weniger Freiwilligkeit.
„Ich möchte bestimmt nicht in die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts zurück, in der jeder, der ein bisschen anders ist, in eine Zwangsjacke gesteckt wird. Aber ich möchte schon, dass wir da mutiger werden.“ Um zu handeln, wenn ein Mensch im Begriff ist, zu erfrieren, das aber nicht mehr selbst begreift. Demjenigen auch gegen seinen Willen und zur Not mit Zwangsmaßnahmen helfen. „Das klingt schrecklich, aber wir müssen uns das trauen.“ Um Leben zu retten und um die Menschen, wie von Dassel sagt, dann am Wickel zu haben. Um sich weiter kümmern zu können.
Regeln, die für alle gelten
Es sind die beiden Fragen, die ihn momentan am meisten umtreiben: Wie viel freien Willen lässt man jemandem gegenüber sich selbst? Und: Was kann ich zulassen, weil die Gesellschaft es aushält, wo aber muss man konsequent sein, weil sie es nicht mehr aushalten muss?
Den Mann im Schillerpark, der mit Fäkalien wirft, müsse niemand aushalten. Auch nicht das Camp im Tiergarten, für dessen Räumung er so hart kritisiert wurde. „Da gab es Gewalt, Gewalt gegen Schwächere, gegen Frauen. Dann braucht es auch ein klares Signal, dass wir das nicht zulassen.“ Und die Frau im taz-Video? „Natürlich hätte es mehr gebracht, sie irgendwie anders zu erreichen. Eine psychiatrische Begutachtung wäre sicherlich sinnvoll gewesen. Genau da müssen wir besser werden.“
Zwang, wenn nötig, einen besseren psychiatrischen Zugang und konsequent sein, wenn Regeln verletzt werden, die für alle andere Menschen gelten. Das ist von Dassels Plan. Aber dieser Ansatz trennt ihn von den meisten Sozialarbeitenden. „Die sagen zu mir, Räumung ist keine Lösung, und ich sage: Stimmt, Nichträumen aber auch nicht.“ Ein Konflikt, der stärker als anderswo im Berliner Bezirk Mitte köchelt.
Von Dassel gilt als besonders räumungsfreudig, auch wenn es um kleinere Gruppen von Obdachlosen geht. Er sagt, im Jahr gebe es knapp 100 Einsätze, die zum Ziel hätten, dass obdachlose Menschen ihre Lager auflösten oder das wilde Campieren einstellten. Das seien nicht alles Räumungen, oft reiche es, wenn Mitarbeitende des Ordnungsamts erscheinen. „Wir haben nun mal nicht in jeder Situation Monate Zeit, und der öffentliche Raum muss für alle nutzbar sein.“
Von Dassel sagt, würden die Streetworker mehr mit ihm kommunizieren, ihm sagen, wenn sie an einer Person dran sind, die sie „in wenigen Wochen“ im Hilfesystem hätten, dann würde er sie machen lassen. Solange andere Menschen nicht gefährdet würden. Heute aber sei es so, dass die wenigsten Hinweise von den Streetworkern kämen. Stattdessen würden Mitarbeitende des Ordnungsamtes, der Polizei oder Bürger auf Obdachlose aufmerksam machen.
Die Streetworkerinnen Zuza Maczynska und Ana-Maria Ilisiu sind bereit für ihre Schicht. Pullover über Pullover haben sie übereinandergezogen, Jacke über Pullover, Jacke über Jacke. Mützen auf den kurzgeschnittenen Haaren, gleich ziehen sie durch den Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Sie arbeiten für Gangway, einen Freien Träger. Maczynska und Ilisiu gehören zum Team „Drop Out Xhain“, das mit erwachsenen Wohnungslosen arbeitet. Bevor sie starten, überlegen sie, welche Orte sie anlaufen möchten und entscheiden sich, an einer U-Bahn-Station anzufangen.
„Unser Konzept basiert auf Freiwilligkeit“, erzählt Zuza Maczynska auf dem Weg dorthin. „Wir respektieren unsere Klienten und machen das, was sie uns sagen. Das heißt, wir akzeptieren auch, wenn jemand auf der Straße bleiben will. Helfen aber natürlich, wenn er da weg möchte.“ Ana-Maria Ilisiu ergänzt: „Wir zwingen die Menschen zu nichts. Wir machen Angebote, zeigen, welche Möglichkeiten es gibt.“
Wenn sie zu den Menschen gehen, verstehen sie sich als Gäste, und Gäste schreiben ihrem Gastgeber nun mal nichts vor. Wenn es bitterkalt ist, dann insistieren sie, fragen, ob die Obdachlosen ein Handy und die Nummer des Kältebusses eingespeichert haben, sagen ihnen, wo sie übernachten und sich aufwärmen können. Aber ob sie das dann wahrnehmen, entscheiden die Menschen immer noch selbst.
Die Hilfe zur Selbsthilfe ist ein Kernelement der Sozialen Arbeit. Und „akzeptierende Ansätze“ wie der, nach dem Gangway arbeitet, wurden insbesondere nach den 1968ern populär, sind heute mehr die Regel denn die Ausnahme. Dem stehen etwa Zuchthäuser in absolutistischen Gesellschaften gegenüber.
Als die Streetworkerinnen an der U-Bahn-Station ankommen, ist es, als hätten alle auf sie gewartet: Die Männer vor den Ticketautomaten, von denen zwei zusammengehören und einer mit seinem lilafarbenen Einkaufstrolley allein ist. Der Mann, der zwischen den beiden Bankautomaten bei den Treppen sitzt und lethargisch ins Leere starrt.
Maczynska und die beiden Männer am Ticketautomaten kommen sofort ins Gespräch, reden in schnellem Polnisch miteinander. Ilisiu widmet sich dem dritten Mann, der jedem Menschen, der ein Ticket ziehen möchte, freundlich signalisiert, ihm helfen zu wollen, dann aber nur eine einladende Handbewegung macht, als stünde er vor einem Zirkuszelt und würde zur Vorstellung bitten.
Ilisiu versucht, ihn auf Rumänisch anzusprechen, doch darauf reagiert er nicht. Aus ihrem Rucksack zieht sie einen Flyer mit Anlaufstellen der Berliner Kältehilfe. „Den haben wir jetzt auch auf Bulgarisch.“ Sie hält dem Mann das Papier hin. Der aber schaut gar nicht darauf. Ilisiu schiebt es ihm direkt vor die Augen und fragt. „Kannst du das lesen?“
Vertrauen aufbauen dauert
Der Mann guckt an dem Papier vorbei und macht dann immer wieder die gleiche, fahrige Bewegung. Er führt Daumen und Zeigefinger zum Mund, öffnet und schließt die Lippen. Ilisiu imitiert die Geste, sagt: „Ja, wir können dir zeigen, wo du essen kannst. Und auch schlafen?“ Sie legt ihren Kopf an die gefalteten Hände. Er nickt wild. „Wir bringen dich sofort hin“, sagt Ilisiu, setzt Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand abwechselnd voreinander. Mit der linken Hand hält sie zwei Finger in die Höhe. Zwei Minuten, dann ist auch die Kollegin so weit.
Der Mann will aber nicht warten. Macht immer wieder die gleichen Bewegungen, will losstürmen, bis Ilisiu ihn kurz vor der Straße aufhält. „Wir gehen sofort“, sagt sie mit Nachdruck, wiederholt die Gesten für Gehen, Essen, Schlafen und Warten und blickt sich zu Maczynska um. Die gibt den beiden polnischen Männern gerade Visitenkarten, sagt dann „Wir können los“, doch jetzt will der Mann mit dem lilafarbenen Trolley nicht mehr.
Ist es besser, ihn jetzt in Ruhe zu lassen, obwohl er doch nach Hilfe verlangt hatte? „Es ist besser, später und morgen wiederzukommen, als ihn jetzt zu überreden“, sagt Ilisiu. Und: „Vertrauen aufzubauen dauert lange. Nicht Tage oder Wochen, sondern Monate, manchmal Jahre. Das dauert Herrn von Dassel zu lange.“ Und was ist mit den Regeln, die von Dassel betont hat, an die sich alle halten müssten? Ilisiu fragt zurück: „Welche Regeln sind so wichtig, dass wir sie an alle Menschen gleichermaßen anlegen müssen? Sollen wir an psychisch Kranke, Suchtkranke, wirklich die gleichen Maßstäbe ansetzen wie an uns?“
Ilisiu kann viele Gründe nennen, warum manche Obdachlose auch bei klirrender Kälte nicht in Notunterkünfte wollen. „Vielen ist es zu laut, zu stressig, sie sagen, in den Einrichtungen sind sie schon beklaut worden, hätten Läuse bekommen. Viele haben sich schlichtweg daran gewöhnt, für sich zu sein. Sie wollen ihre Ruhe haben.“ An Ilisius linker Seite läuft jetzt Kollegin Maczynska, sie sagt: „Es bräuchte mehr Angebote, wo Menschen allein oder als Paar hineinkönnen, ihren Hund mitnehmen und ihre Drogen konsumieren könnten.“
Und es bräuchte dringend mehr niedrigschwellige psychiatrische Angebote. „Es gibt nur sehr wenige Einrichtungen, die mit Menschen in ganz schwierigen Situationen arbeiten können“, sagt Maczynska. „Die haben dann keine Kapazitäten, um die Menschen aufzunehmen. Aber überall anders fliegen sie raus, weil sie psychisch krank, suchtkrank, aggressiv sind – und nicht immer eine Krankenversicherung haben.“ Die Krankenversicherung ist in Deutschland Teil der Sozialleistungen. Um darauf Anspruch zu haben, müssen EU-Bürger*innen eine Arbeit finden.
Ende 2016 hatte die Bundesregierung beschlossen, EU-Bürger*innen für fünf Jahre von Hartz-IV-Leistungen und Sozialhilfe auszuschließen, wenn sie in Deutschland noch nie gearbeitet haben. Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel sagt, dass Menschen, die in Deutschland keine Ansprüche haben, irgendwann zurückmüssen. Und das dies für einige besser wäre. „Das ist Quatsch“, sagt Ilisiu. „Sogar die, die nur nach Deutschland kommen, um zu betteln, können von dem Geld die Schule ihrer Kinder in Rumänien bezahlen. Sie werden bleiben.“
Als die Streetworkerinnen um eine Ecke biegen, kommt ihnen ein Mann entgegen. Er schiebt einen voll beladenen Kinderwagen vor sich her, trägt eine Perücke auf dem Kopf. „Willst du den mal ansprechen?“, fragt Maczynska ihre Kollegin. Schon wissend, dass der Mann Rumäne ist. Während des Gesprächs trinkt er immer mal wieder aus seiner Flasche Bier, gerade stehen kann er nicht mehr. Dann fängt er an zu weinen, redet dabei weiter, verschluckt sich, wie ein Kind nach einem Sturz. „Er sagt, er vermisst seine Mutter“, übersetzt Ilisiu. Sie ruft die Polizei an, weil der Mann ein Formular möchte, mit dem er eine Anzeige aufgeben kann, er sei beklaut worden. Sie verabreden sich für den nächsten Tag.
„Die Soziale Arbeit hat ihre Grenzen“, sagt Maczynska. Das notorisch fehlende Geld, die zu geringen Kapazitäten. Und: „Wir wissen natürlich nicht, wie mit bestimmten psychischen Problemen umzugehen ist.“ In anderen Ländern arbeiteten Sozialarbeitende, Psychotherapeuten und Psychologen in den Einrichtungen zusammen. In Deutschland passiere viel zu wenig interdisziplinär, sagt Ilisiu. Was wäre also mit Psychiatern und Psychotherapeuten, die gemeinsam mit Sozialarbeitenden losziehen würden? „Das wäre eine fantastische Idee“, sagt Maczynska. Es ist die Idee, die auch Stephan von Dassel hat.
Findet man dann nicht vielleicht doch zusammen? Ilisiu sieht skeptisch aus. Wenn von Dassel das denke, müsse er auch entsprechend handeln. Und was wäre zum Beispiel mit dem Fäkalienwerfer vom Schillerpark? Und der Frage, ob die Gesellschaft ihn aushalten muss? „Ich würde auf Aufklärung im Kiez setzen, Verständnis einholen, alles, bevor dieser Mann mit Gewalt und Zwang weggebracht werden müsste“, sagt Ilisiu. „Wir brauchen Solidarität, keine Ausgrenzung.“
Die wenigsten Fälle sind eindeutig – wie auch der der Frau, die auf dem Leopoldplatz im Wedding lebt. Egal, wen man dort fragt, jeder kennt sie. Der junge Mann hinter der Theke der Leo-Apotheke, sagt „Ja, natürlich, sie ist immer hier, läuft mit ihrer Decke die Straße auf und ab.“ Und die wohnungslose Frau vor dem Netto-Eingang lallt: „Eine arme Person ist das.“ Dann schwenkt sie die Flasche Bier in ihrer Hand. „Läuft hier rum, hat was Dickes über ihre Schultern geworfen. Ist nicht ganz da.“
Zu der Essensausgabe der Berliner Obdachlosenhilfe, die jeden Mittwochabend am Leopoldplatz stattfindet, kommt die Frau nicht, aber auch die Obdachlosen, die da sind, kennen sie. „Ja, klar“, sagt Uli, der eigentlich anders heißt und trotz der Kälte nur eine dünne Sportjacke von Galatasaray Istanbul trägt. „Die sehe ich oft. Aber mit ihr gesprochen habe ich noch nie.“ Heute gibt es bei der Essensausgabe indisches Curry, Obstsalat, Wurst- und Käsebrötchen, Zimtschnecken, Vanillequark, und weil nicht so viele kommen wie sonst, darf sich jede*r mehr von allem nehmen. Uli stopft fünf Päckchen Vanillequark in seine Woolworth-Tasche.
Auf seinem Heimweg geht Uli auch an dem Lager der Leopoldplatz-Frau vorbei. Es sieht jetzt aus wie ein Bett, das am Morgen überstürzt verlassen wurde. Übereinander geworfene Decken, Kissen mit tiefen Kopfabdrücken, daneben auf dem Bürgersteig, wie sonst vielleicht auf einem Nachttisch, eine Schale mit Clementinen, am anderen Ende des Bettes ein Kamel als Kuscheltier. Die Frau ist nicht da, und sie kehrt in den kommenden Stunden auch nicht zurück.
Am nächsten Morgen, einem Freitag, ist Markt auf dem Leopoldplatz. Neben einem kleinen Kaffeewagen sitzt die Frau im Schneidersitz, mit einem offenen Schlafsack um die Schultern. Sie wünscht sich einen Kaffee, obwohl ein halb gefüllter Becher vor ihr steht. Was sie hier macht? „Ich putze Himmel und Erde“, sagt sie, so selbstverständlich, als hätte sie soeben erzählt, sie sei von Beruf Friseurin. Sie klingt dabei ein bisschen genervt und gestresst – so wie andere Menschen von ihrer anstrengenden Arbeit erzählen. „Ja, ja, das ist schon ganz schön viel“, sagt sie seufzend.
Ihre braunen Haare stehen wirr vom Kopf ab, einige verfilzte Strähnen ragen in die Luft. Sie ist so schmutzig, dass ihr Alter schwer zu schätzen ist, sie könnte 40, aber auch 60 Jahre alt sein. Auf die Frage, wie sie heiße, antwortet sie mit einem Wort, das wie „Marlies“ klingt, aber auch etwas ganz anderes meinen könnte.
„Alles muss ich putzen, die ganzen Häuser, Burgen und Schlösser.“ Die Frau lächelt viel, während sie spricht, und zeigt dabei ihren letzten, eisbergförmigen Zahn, rechts unten. „Samstags, wenn hier Flohmarkt ist, putze ich auch den Platz, aber das mache ich nur, weil ich die Leute so mag.“ Ob sie sich denn vorstellen könne, auch einmal woanders zu leben, als am Leopoldplatz. „Nein, nein, nein“, sagt sie, als wäre das nicht nötig. „Ich bleibe hier.“
Wenn es aber doch wieder richtig kalt würde, könnte sie sich dann vorstellen, auch mal, sei es nur für eine Nacht, in eine Unterkunft zu gehen? „Nein, das geht ja nicht“, antwortet sie. „Früher wäre das vielleicht mal gegangen, als die Häuser alle noch leer waren. Aber jetzt, das sehe ich ja immer, steht so viel Kram drin, Möbel und Menschen, und da ist kein Platz für mich.“ Und sie habe dafür ja auch überhaupt keine Zeit. „Was ich alles putzen muss!“
Stephan von Dassel kennt die Frau seit Jahren. Schon als Sozialstadtrat versuchte er, sie ins Hilfesystem zu bringen. „Zu einem zielführenden Gespräch bin ich aber nie mit ihr gekommen.“ Die Frau habe ihm erzählt, dass sie auf den Leopoldplatz aufpasse. Ihn nicht verlassen könne, weil er sonst untergehen und alle Menschen sterben würden, nur ihretwegen. Hilfe brauche sie keine.
Jetzt sagt die Frau: „Ich putze und habe alles im Blick. Dann ist alles gut.“ Dass der Leopoldplatz untergehen würde, wiederholt sie an diesem Tag nicht. Ihre Geschichten variieren. Was aber immer gleich bleibt: Sei es, um zu putzen oder um die Menschen zu retten – den Leopoldplatz kann sie nicht verlassen.
Ist das nun eine Frau, die eindeutig nicht mehr in der gleichen Welt lebt wie die Menschen um sie herum? Die nicht mehr einschätzen kann, was ihr freier Wille ist und was nicht? Wäre es richtig, diese Frau für ein paar Wochen in die Psychiatrie zu bringen? Oder sie am Leopoldplatz zu lassen?
Wenn Menschen auf der Straße nicht mehr vernünftig ansprechbar sind, kann der sozialpsychiatrische Dienst gerufen werden. Dessen Mitarbeiter*innen beurteilen, ob die Person weiß, in welcher Situation sie sich befindet, ob sie selbst entscheiden kann, wie stark sie gefährdet ist. Oder ob sie sie mitnehmen müssen. Mal landet ein Mensch so für eine Woche im Krankenhaus, mal für sechs Wochen in der Psychiatrie. Und danach wieder auf der Straße. Oft passiert aber auch gar nichts.
Wie viel ihres Willens ist bei der Frau am Leopoldplatz frei, wie viel ist im Wahn gefangen? Wie wäre das einzuschätzen, bei einem Kälteeinbruch, bei minus 20 Grad? Von Dassel sagt: „Vielleicht bekommt sie einen Herzinfarkt, wenn man sie vom Leopoldplatz wegholt. Vielleicht wird sie, wenn sie bleibt, nicht 80, sondern nur 55. Ich wünsche mir ein anderes Leben für sie.“ Auf die Frage, wie viel freien Willen jemanden gegenüber sich selbst zuzumuten ist, hat von Dassel in diesem Fall keine Antwort gefunden. Auf die andere Frage schon: „So jemanden hält die Gesellschaft aus.“
Auch Streetworkerin Ana-Maria Ilisiu hadert. Wie ihr helfen? „Dem Kältebus Bescheid sagen, damit der sie im Auge behält. Zur Kleiderkammer fahren und ihr wärmere Sachen besorgen. Immer wieder zu ihr gehen.“ Sie nicht sterben lassen, sie vor allem aber zu nichts zwingen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles