Herbert Diercks über NS-Geschichte: „Geschichte hat mich nicht interessiert“

Seit mehr als 30 Jahren erzählt der Historiker Diercks von der NS-Geschichte Hamburgs. Ein Gespräch über authentische Orte – und was noch verschwiegen wird.

Immer noch fasziniert davon, Geschichte zu entdecken und zu vermitteln: Herbert Diercks Foto: Miguel Ferraz

taz: Herr Diercks, können Sie sich an den ersten Stadtrundgang erinnern, an dem Sie teilgenommen haben?

Herbert Diercks: Es war ein Rundgang auf den Spuren des Altonaer Blutsonntags. Mit Zeitzeugen und ich als Teilnehmer – sehr spannend. Der Blutsonntag gehörte zu den vergessenen Geschichten und war in Hamburg kein Thema. Wir gingen durch die Altstadt von Altona, die ja im Krieg weitgehend zerbombt worden war, landeten in Parkanlagen, versuchten anhand von historischen Karten zu rekonstruieren, was wo passiert war. Als ich 1975 nach Hamburg kam, um mein Studium aufzunehmen, habe ich mich sofort für die unterschiedlichen Geschichten der Stadtteile interessiert. Wenn ich Besuch bekam, habe ich den durch die Stadtteile geschleppt. Dann ging es runter ins Souterrain zu den Arbeiterwohnungen.

Wo kommen Sie ursprünglich her?

Geboren und aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf in Aukrug, also in Schleswig-Holstein. Meine Eltern hatten dort einen Minibauernhof, den sie später aufgeben mussten. Wir sind nach Nortorf gezogen und ich bin in Neumünster zur Schule gegangen: Es gab dort drei Schulen und eine war die gute – ein Gymnasium für Mädchen und Jungen, auf das ich nach meinem Realschulabschluss wechseln konnte. Es war ein kleiner Umweg, aber rückblickend für mich genau richtig.

War früh klar, dass die Geschichte Ihre Leidenschaft werden würde?

Die erste Idee war, Sozialpädagogik zu studieren, aber ich habe in Kiel keinen Studienplatz bekommen und war auf der Suche nach einer Alternative. Schon als Jugendlicher hatte ich einen persönlichen Kontakt zu einem ehemaligen Neuengamme-Häftling, zu Fritz Bringmann – der mich nach Neuengamme mitgenommen und mir dort alles gezeigt hat. Über ihn habe ich an Aktionen der Internationalen Lagergemeinschaft teilgenommen, fing an, über die Zeit des Nationalsozialismus nachzudenken und mich überhaupt mit Geschichte zu beschäftigen, denn nun fand ich Geschichte sehr spannend. In der Schule hat mich Geschichte überhaupt nicht interessiert.

Da öffnete sich überhaupt eine neue Welt?

1973 habe ich Abitur gemacht, also den Drive der 68er-Bewegung mitbekommen. Wir hatten an der Schule noch Altnazis, auch sonst gab es die überall. Und dann war da dieser Aufbruch, diese Befreiung. Ich war in einer Clique und klar haben wir Jungs den Kriegsdienst verweigert – mit der Bundeswehr wollten wir selbstverständlich nichts zu tun haben. Wir haben dann alles kennengelernt: Prüfungskammer, Prüfungsausschuss, einer von uns musste bis vor das Verwaltungsgericht Schleswig. Anschließend haben wir Beratung für Kriegsdienstverweigerer gemacht, wir kannten uns jetzt ja aus. Sich zu engagieren, gleichzeitig Wissen anzueignen, sich daraufhin noch mehr zu engagieren, das war eine wichtige Erfahrung für eine ganze Generation – die jetzt im Rentenalter ist. Oder ein anderes Beispiel: Ich habe noch in Nortorf eine Gruppe der VVN mitgegründet – der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“. Die bestand ausschließlich aus Jugendlichen, und niemand hatte in der Verwandtschaft jemanden, der verfolgt worden war. Aber das war egal. Für uns war das spannend – und diese Arbeit habe ich dann in Hamburg fortgesetzt.

Jahrgang 1953, kam 1975 nach Hamburg, arbeitete ab 1983 als studentische Hilfskraft in der Gedenkstätte Neuengamme, wurde dort 1994 fest eingestellt. Er erarbeitete Ausstellungen zur Stadtgeschichte Hamburgs im Nationalsozialismus. Seit 30 Jahren begleitet er die Alternativen Hafenrundfahrten der KZ-Gedenkstätte Neuengamme sowie seit vielen Jahren die Alsterkanalfahrten und Fahrradtouren über den Ohlsdorfer Friedhof sowie literarische Führungen.

Geschichte war dabei immer politisch grundiert?

Ich habe sehr früh, noch als Student, ein Büchlein geschrieben: „Naziterror und Widerstand in Elmshorn“. Dabei habe ich nie in meinem Leben in Elmshorn und Umgebung gelebt! Aber Elmshorn war einst eine Indus­triestadt, wichtig für die Lederindustrie und dort hat es in der NS-Zeit einen relativ starken Widerstand gegeben. Die alten Leute haben erzählt und erzählt und ich so ganz locker: „Das wollen wir mal aufschreiben, das machen wir zu einem Buch“.

Wie kam es zu den Führungen, die Sie angeboten haben?

Ich habe mir von Elmshorn einen Stadtplan besorgt, geschaut, wie die Stadt überhaupt aussieht – und dann bin ich alles mit dem Fahrrad abgefahren und habe so eine „Antifaschistische Fahrradtour durch Elmshorn“ konzipiert. Und schnell habe ich gemerkt, wie viel Spaß es macht, das, was ich weiß, anderen weiterzugeben.

Wie wichtig ist bei Ihren Führungen der berühmte „authentische Ort“?

Einen Stolperstein kann man nur dort verlegen, wo ein Mensch auch gewohnt hat, da ist der authentische Ort sehr wichtig. Wenn ich eine Stadtteilführung mache, sind viele Leute da, die sich für den Stadtteil interessieren. Auch da ist der konkrete, authentische Ort wichtig. Wenn sich nun jemand für die Hafengeschichte interessiert, dann ist es tatsächlich wichtig, am Dessauer Ufer am Speicher G vor Ort zu erzählen: „In genau diesem Gebäude waren von 1944 an 1500 jüdische Frauen aus Auschwitz, die dem KZ Neuengamme unterstellt waren, untergebracht.“ Das kann ich nicht an der Elbphilharmonie erzählen. Da brauche ich den authentischen Ort. Zugleich tauchen, wenn ich vor diesem Gebäude stehe, es sehe und erzähle, Fragen auf: In welchem baulichen Zustand ist es heute? Wie kann man dieses Gebäude nutzen, um Geschichte zu vermitteln? Beim Speicher G kommt noch hinzu: Wenn ich gut drauf bin, erzähle ich noch, dass hier eigentlich das Stadion für die Hamburger Olympiade gebaut werden sollte …

Die authentischen Orte werden ja weniger …

Das ist das Problem im Hafen. Der hat sich in den 30 Jahren, in denen ich dort unterwegs bin, komplett verändert. Wir – ich mache diese Führungen ja nicht allein – sind in den ersten Jahren regelmäßig in den historischen Vulkan-Hafen hineingefahren, der der Hafen der Vulkan-Werft war, nach 1945 der Hafen der HDW. An der Stirnseite war lange ein U-Boot-Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, für den U-Boot-Bau. Für uns ein ganz wichtiger, authentischer Ort, um dort über Kriegsproduktion zu erzählen.

Ich finde es nahezu unfassbar, dass es keine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Hapag-Lloyd für die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus gibt – damals der weltgrößte Schifffahrtskonzern, der früh die Nazis unterstützte

Der Bunker ist nun weg …

… das Hafenbecken ist zugeschüttet worden und dort lagern jetzt Container. Oder wir sind regelmäßig in den Baakenhafen hineingefahren, konnten erzählen, dass in den umliegenden Hafenschuppen zum einem das Kriegsmaterial lagerte, das für die Legion Condor nach Spanien verschifft wurde, zum anderen hier später das sogenannte Judengut untergebracht war. Wir fahren weiterhin dort hinein, die Hafenschuppen sind verschwunden, und wir erzählen diese Geschichten – aber inzwischen blicken wir von dort aus auf die Hafencity-Universität und auf Freiflächen und wir müssen die Fantasie aktivieren: Wir sind sozusagen an einem authentischen Ort und man sieht zugleich die Veränderungen.

Was hat sich in den 30 Jahren, in denen Sie nun Führungen und Rundgänge anbieten, generell geändert?

Es ist eine neue Generation herangewachsen, die einen ganz anderen Blick auf Geschichte wirft. Sie schaut mit Abstand auf das Vergangene – zugleich ist die Gesellschaft bunter und schöner geworden. Ich freue mich immer wieder über die Mischung an Nationalitäten bei uns im Haus oder bei uns im Stadtteil. Außerdem ist Erinnerungsarbeit heute akzeptiert, während wir damals noch Tabubrüche begehen mussten, um die es heftige Auseinandersetzungen gab. Es ist, von Ausnahmen abgesehen, ein gesellschaftlicher Konsens, dass über NS-Geschichte informiert wird.

Alles gut also?

Ich schaue durchaus selbstkritisch auf meine eigenen Veranstaltungen, und mir ist ein wenig unbehaglich, dass sich heute jeder Reaktionär vor einen Stolperstein stellen und Krokodilstränen vergießen kann, über das schlimme Schicksal, das jemand erlitten hat – um im nächsten Moment zu rechtfertigen, dass Flüchtlinge nicht ins Land gelassen werden und auf ihrer Flucht ertrinken. Das passt meines Erachtens nicht zusammen. Die Frage ist: Wie kann ich Aufklärung leisten, sodass es auch zum Nachdenken über die Verfasstheit unserer Gesellschaft heute führt? Es gibt ein Phänomen, das mich beschäftigt: Menschen, die nicht informiert sind, sagen am ehesten: „Wir wissen doch schon alles, lass uns mit Geschichte in Ruhe.“ Und Leute, die informiert sind, sagen: „Gib uns noch mehr Informationen.“ Die, die schon mal in Neuengamme waren und sich interessieren, kommen immer wieder; aber ein Großteil der Hamburger war noch nie dort.

Ich habe gerade Ihre Alsterkanalfahrt mitgemacht, da schippert man sehr entspannt über die Alster und schaut auf die schnieken Villen …

Wo die saßen, die damals die Nähe zur NSDAP suchten, die Geld gaben, Hitler zu Vorträgen einluden – und die es nach 1945 vermochten, jede Beteiligung zu verschleiern, sodass bis heute kaum darüber gesprochen wird. Da kann in Hamburg noch viel aufgearbeitet werden.

Beispiele?

Ich finde es nahezu unfassbar, dass es keine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Hapag-Lloyd für die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus gibt – damals der weltgrößte Schifffahrtskonzern, der früh die Nazis unterstützte. Auch zur Geschichte des Alsterhauses, das einst einer jüdischen Familie gehörte, gibt es nichts Vernünftiges.

Was hat sich bei Ihnen persönlich geändert?

Ich bin älter geworden! Und ich schaue heute mit mehr Distanz auf die Geschichte, versuche, alle Facetten aufzugreifen. Geschichte ist früher leicht glattgebügelt worden, aber sie ist voller Widersprüche. Und: Ich mache Führungen und Rundgänge weiterhin sehr gerne. Dabei gehe ich heute mehr spielerisch damit um: Ich biete etwa demnächst eine Paddeltour durch die Alsterkanäle an. Mich fasziniert es also weiterhin, selbst Geschichte zu entdecken – und davon zu erzählen. Ich denke immer noch: „Hey, was gibt es alles zu entdecken!“ So gesehen bin ich meinem Aufbruch in den 1970er-Jahren einigermaßen treu geblieben.

Sind Sie in den 30 Jahren nun Hamburger geworden?

Nein! Ich lebe als Kind vom Lande mit Freuden in Hamburg, aber ich bin weit davon entfernt, Hamburg als schönste Stadt der Welt zu bezeichnen. Ich weiß, dass dieses Bild, das heute noch in den Köpfen der Hanseaten steckt, von wegen Hamburg ist weltoffen und liberal, ein Selbstbetrug ist.

Hamburg hat Sie also nicht vereinnahmen können …

Ich war neulich das erste Mal in Leipzig, eine tolle Stadt. Ich habe Industriebrachen kennengelernt, die jetzt für Kunstprojekte benutzt werden sollen – spannend! Wäre ich in einem Alter, wo ich gucken müsste, wo ich studiere – da käme ganz klar auch Leipzig infrage.

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