Heilmittel Cannabis: Der Joint als Medizin
Seit 2017 darf Cannabis in Deutschland verschrieben werden. Eine Patientin, ein Arzt, ein Behördenvertreter und eine Betriebssprecherin berichten.
F ür die einen ist es die letzte Hoffnung auf Linderung der Schmerzen, für die anderen eine Droge mit zweifelhafter Wirkung: Seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2017 darf Cannabis in Deutschland auf Rezept verschrieben werden – zumindest dann, wenn es sich um schwerwiegende Erkrankungen handelt und konventionelle Therapien nicht anschlagen.
Empfohlener externer Inhalt
Doch wie gut Cannabis in welcher Dosierung wirkt, ist bisher nur unzureichend erforscht. Es existieren Studien, die sich mit dem Nutzen bei einzelnen Krankheiten befassen; eine große Metastudie fehlt aber nach wie vor. Trotzdem steigt die Nachfrage. Um den steigenden Bedarf zu decken, dürfen Privatfirmen unter staatlicher Aufsicht die Pflanze neuerdings auch in Deutschland anbauen. In diesem Text schildern eine Patientin, ein Arzt, ein Behördenvertreter und die Sprecherin eines Anbaubetriebs ihre Sicht der Dinge.
Die Patientin: „Es hilft, die Anfälle deutlich zu senken“
„Rauchen ist ungesund“, sagt Daniela Joachim, deshalb zünde sie sich grundsätzlich keinen Joint an. Die Cannabisblüten, die sie auf Rezept erhält, verrührt sie entweder mit Joghurt oder sie erhitzt sie in einem Verdampfer. „Das ist ein bisschen wie bei einer E-Zigarette“, sagt die 48-Jährige, „mit dem Unterschied, dass es sich um ein geprüftes, medizinisches Produkt handelt.“
Daniela Joachim ist Vorstandsmitglied im Bund Deutscher Cannabis-Patienten. Der Verband sieht sich als Selbsthilfegruppe für Menschen, deren Krankheiten sich mit Cannabis lindern lassen. So wie bei Joachim selbst. Bei ihr entwickelte sich eine massive Migräne, nachdem ein Tumor in ihrer Nasennebenhöhle bestrahlt worden war. „Das Einzige, was mir half, war Ibuprofen“, sagt Joachim. Irgendwann habe sie aber selbst davon Kopfschmerzen bekommen.
Schließlich probierte sie Cannabis aus, zunächst per Privatrezept auf eigene Kosten. „Bei mir hilft es, die Frequenz der Migräneanfälle deutlich zu senken“, sagt sie. Eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse habe ihr Neurologe trotzdem nicht beantragen wollen, sagt Joachim. „Er kannte sich damit nicht aus, das war ihm zu kompliziert.“ Erst in einer Schmerzambulanz in Hannover fand sie einen Arzt, der ihrem Wunsch nachkam.
Seit 2017 dürfen Ärztinnen und Ärzte Cannabis auf Rezept verschreiben. Laut Bund Deutscher Cannabis-Patienten sind viele von ihnen aber nach wie vor skeptisch. „Die Leute müssen von Arzt zu Arzt“, klagt Daniela Joachim. „Manchmal dauert es Jahre, bis sie jemanden finden, der diese Therapie mitmacht.“ Gleiches gelte für Apothekerinnen und Apotheker. „Wenn ich frage, ob ich ein Cannabisrezept einlösen kann, gucken mich die meisten mit großen Augen an.“
Aus diesem Grund führt ihre Selbsthilfegruppe eine Liste. Darauf stehen Ärztinnen und Apotheker, die Cannabis gegenüber aufgeschlossen sind. „Ein Privatrezept würde bei mir 700 Euro kosten“, sagt Daniela Joachim. „Das könnte ich mir nicht leisten.“ Bei Deutschlands größter Krankenkasse, der AOK, lag die Bewilligungsquote für Cannabisanträge zuletzt – von Januar bis August 2020 – bei 62 Prozent. In den Jahren zuvor waren die Werte ähnlich.
Die in Joghurt verrührten Cannabisblüten reichen bei Daniela Joachim normalerweise aus, damit sie schmerzfrei durch den Tag kommt. Auch Autofahren sei mit dieser Dosierung problemlos möglich. An stressigen Tagen komme die Migräne aber manchmal zurück. Um den Schmerzen entgegenzuwirken, inhaliere sie die Blüten dann zusätzlich über ihren Verdampfer – in Absprache mit ihrem Arzt, wie sie sagt.
An solchen Tagen spürt sie die erhöhte Dosis deutlich. „Da bin ich ballaballa, da ist mit mir nichts mehr anzufangen.“ Daniela Joachim sagt, auf solche Nebenwirkungen würde sie gerne verzichten, aber dann komme die Migräne zurück. „Ich wäre froh, wenn ich nicht immer Cannabis nehmen müsste. Aber bei mir ist es das Einzige, das hilft.“
Der Mediziner: Hilfe für bis zu 40 Prozent der Patienten
Lange Zeit konnte sich Thomas Vaterrodt nicht vorstellen, Cannabis als Medizin zu verordnen. „Mir ging es da ähnlich wie vielen Kollegen“, sagt Vaterrodt, der als Chefarzt der Neurologie in den SHG-Kliniken Sonnenberg arbeitet. Der Wendepunkt kam mit einem Patienten, bei dem klassische Medikamente nicht anschlugen. „Plötzlich ging es ihm besser“, erinnert sich Vaterrodt. „Da war ich natürlich neugierig, warum.“
Der Patient, der unter Muskelzittern litt, erzählte, er habe auf eigene Faust einen Joint geraucht – und danach Besserung verspürt. „Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich genauer mit dem Thema befasst“, sagt Vaterrodt. „Ich wollte ihm helfen und ihn gleichzeitig aus der Illegalität holen.“ So kam es, dass der Chefarzt im Jahr 2018 sein erstes Cannabisrezept ausstellte. Seither hat er rund 30 Patientinnen und Patienten auf diese Weise behandelt. „Zwischen 30 und 40 Prozent der Austherapierten können wir damit helfen“, sagt Vaterrodt. Eine gute Quote? „Wenn jemand fünf Jahre Schmerzen hat, bis hin zur Morphintherapie, ist das für ihn natürlich ein großer Erfolg“, sagt der Mediziner.
Ob Parkinson, Schmerzen oder posttraumatische Belastungsstörung: Cannabis könne bei verschiedenen Krankheitsbildern helfen, sagt Vaterrodt. Er weiß aber auch: „Das ist nicht für jeden was.“ Er verschreibe Cannabis grundsätzlich nicht an Personen im Alter von unter 21 Jahren. „Manche Patienten entwickeln eine verwirrte Symptomatik“, sagt Vaterrodt. Dann müsse man die Dosierung ändern oder die Therapie abbrechen. Aber das sei bei Pharmaka schließlich nicht anders.
Vaterrodt kennt die Kritik seiner Kollegen. „Bis heute gibt es keine Phase-3-Studie mit Tausenden von Probanden“, sagt der Chefarzt. Für viele Firmen lohne es sich offenbar nicht, in die Forschung zu investieren. Denn: Obwohl Cannabisblüten inzwischen verschrieben werden dürfen, sind sie wegen der fehlenden Wirksamkeitsnachweise nicht als Arznei zugelassen – weshalb Krankenkassen jeden Antrag einzeln prüfen müssen.
Vaterrodt stört dieser Aufwand. Für jeden Patienten muss er Erkrankungen und bisherige Therapien auflisten. „Hier in der Klinik haben wir mehr Personal und können das besser organisieren“, sagt Vaterrodt. „Aber für niedergelassene Ärzte ist das ein Problem.“ Auch sieht er die Gefahr einer Zweiklassenmedizin: „Bei Privatrezepten entfällt der Antrag.“ Diejenigen, die es sich leisten könnten, hätten es also deutlich einfacher als andere, medizinisches Cannabis zu erhalten.
Die Behörde: Viele Patienten beklagen geringe Wirkung
Um die Wirkung von Cannabis besser zu erforschen, führt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Begleitstudie durch: Patientinnen und Patienten, die Blüten, Tropfen oder Tees verschrieben bekommen, sollen in einer anonymen Befragung ihre Erfahrungen schildern. Die Studie hat im Jahr 2017 begonnen und läuft noch bis zum 31. März 2022; einen Zwischenstand hat die Behörde 2019 im Bundesgesundheitsblatt veröffentlicht.
Von 4.153 erfassten Patienten bekamen 69 Prozent Cannabis gegen Schmerzen verschrieben. Danach folgten Spastiken (11 Prozent) und Appetitlosigkeit (8 Prozent). Übelkeit und Erbrechen (4 Prozent) sowie Depressionen (3 Prozent) spielten bei den Verschreibungen eine untergeordnete Rolle, ebenso wie Darmkrankheiten, Epilepsie oder nervöse Zuckungen (je ein Prozent). Von den Schmerzpatienten hat rund ein Drittel die Behandlung abgebrochen. Häufigster Grund: „nicht ausreichende Wirkung“ (44,8 Prozent) sowie Nebenwirkungen (31,2 Prozent). Bei denjenigen, die über Nebenwirkungen klagten, handelte es sich meist um Mundtrockenheit, Schwindel oder Übelkeit.
Die Autoren der Studie warnen jedoch vor voreiligen Schlussfolgerungen: Für valide Aussagen benötige man mindestens 10.000 Datensätze. „Es besteht ansonsten die Gefahr der Überbewertung von gelegentlich oder selten auftretenden Nebenwirkungen“, heißt es in dem Dokument.
Noch stammen die Cannabisblüten komplett aus dem Ausland. So haben Arzneimittelgroßhändler im Jahr 2020 rund 9.231 Kilo nach Deutschland importiert. Wenn in anderen Ländern die Nachfrage plötzlich steigt – zum Beispiel durch die Legalisierung der Droge –, werden manche Sorten jedoch rar. Um solche Engpässe zu vermeiden, soll nach dem Willen der Bundesregierung deshalb auch in Deutschland Medizinalhanf angebaut werden. Zuständig dafür ist ein neues Fachgebiet beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: die Cannabisagentur. Sie kontrolliert Anbau, Ernte und Verarbeitung der heimischen Produktion.
Pro Jahr sollen künftig 2.600 Kilo Cannabis angebaut werden. Warum nur so wenig? „Wir mussten berücksichtigen, dass es vor 2017 keine verlässlichen Zahlen zu möglichen Patienten gab“, sagt Institutssprecher Maik Pommer. Falls zu viel angebaut würde, gehe das zulasten der Steuerzahler. Zudem sei der Import ja weiterhin möglich. Kritiker wie der Deutsche Hanfverband sehen das anders. Sie monieren, die Bundesregierung wolle die Mengen absichtlich kleinhalten, um den Aufbau einer starken deutschen Cannabisindustrie zu verhindern.
Der Anbaubetrieb: „Die Ware lagert hinter dicken Türen“
Ein hoher Zaun, dahinter ein Bunker aus Stahlbeton: So beschreibt Yvonne Möller die Produktionsanlage ihres Arbeitgebers in Leuna, Sachsen-Anhalt. „Die Ware lagert hinter dicken Türen“, sagt Möller, die bei dem Arzneimittelgroßhändler Aurora Deutschland arbeitet. Sicherheit muss sein; immerhin ist das Produkt nicht nur eine Medizin, sondern auch eine begehrte Droge.
Aurora ist – neben der Aphria Deutschland GmbH und der Demecan GmbH – eines von drei Unternehmen, das pharmazeutisches Cannabis in der Bundesrepublik anbauen darf. Der kanadische Mutterkonzern, das börsennotierte Unternehmen Aurora Cannabis Inc., baut die Pflanze in Kanada bereits seit mehreren Jahren für den internationalen Markt großflächig an, laut eigenen Angaben rund 67.500 Kilo pro Jahr.
Für den deutschen Markt sind die Dimensionen deutlich kleiner. Hier darf Aurora zunächst 1.000 Kilo jährlich anbauen. „Wir hoffen, dass der Markt in Europa noch wesentlich wächst“, sagt Firmensprecherin Möller. Aktuell gehe man davon aus, dass zwischen 60.000 bis 80.000 Personen in Deutschland Cannabis verschrieben bekommen. „In Kanada ist es ein Prozent der Bevölkerung“, sagt Möller. Auf Deutschland übertragen wären das langfristig 830.000 potenzielle Abnehmer.
Cannabis Hanf (Cannabis sativa) wurde schon in der Antike kultiviert, um daraus Kleidung oder Seile herzustellen. Die Pflanze enthält unter anderem die Inhaltsstoffe Delta-9-Tetrahydrogencannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) – beidem wird eine medizinische Wirkung nachgesagt. Die Studienlage ist aber nach wie vor unvollständig.
Medizin Stellt ein Arzt ein Cannabisrezept aus, gibt es verschiedene Darreichungsformen: von Blüten, die in einen Verdampfer oder Joint getan werden, bis hin zu Kapseln, Ölen, Tees oder Tropfen.
Gesetzeslage Ein Joint gegen Übelkeit? Ganz so leicht ist es auch nach der Gesetzesänderung nicht, an ein Rezept zu gelangen. Zum einen müssen Ärzte zuvor alle anderen Therapiemöglichkeiten ausschöpfen. Zum anderen kommen nur Patientinnen und Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen infrage. Welche das sind, wird im Gesetz nicht näher definiert. Ärzte müssen die Verschreibung gegenüber der Krankenkasse jedoch begründen. (taz)
Andere Firmen wie die Bavaria Weed GmbH aus dem bayerischen Herrsching züchten nicht selbst, sondern konzentrieren sich auf die Einfuhr und Verteilung von medizinischem Cannabis – auch dies ist ein wachsender Geschäftszweig.
Wie viele Patientinnen und Patienten in Deutschland aktuell Cannabis erhalten, darüber gibt es keine exakten Zahlen. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen erfasst lediglich die Gesamtzahl der verschriebenen Rezepte. Demnach wurden von Januar bis September 2019 insgesamt 193.462 Cannabisrezepte ausgestellt. Im Jahr 2020 waren es im selben Zeitraum bereits 241.744 Rezepte. Auch die Menge der eingeführten Blüten steigt seit der Legalisierung stark an. Für die in Deutschland produzierenden Firmen läuft das Geschäft allerdings eher schleppend an. „Corona hat uns alle überrascht“, beteuert Yvonne Möller von Aurora. Viele Materialien kämen aus ganz Europa, weshalb sich der Innenausbau der Produktionsstätten verzögere. Jetzt stünden erst einmal mehrere Testläufe an: Bei welcher Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Beleuchtung wachsen die Pflanzen am besten? Unter welchen Bedingungen entwickeln sie den optimalen THC-Wert? Danach müsse das Landesverwaltungsamt in Sachsen-Anhalt die Anlage behördlich abnehmen. Wann die erste Ernte ansteht? Noch unklar.
Für Patientinnen und Patienten ändert diese Verzögerung indessen erst mal nichts. Mit einem entsprechenden Rezept erhalten sie in der Apotheke ihr Cannabis, egal aus welchem Land es letztendlich stammt. Vorausgesetzt natürlich, sie finden zuvor den richtigen Arzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich