„Hass im Netz“: Tödliche Wirkung des Internets
Seit dem Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr wird über „Hass im Netz“ diskutiert. Dabei ist Hass nicht nur digital. Er hat immer auch analoge Folgen.
Am Freitag letzter Woche wurde die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr tot in ihrer Praxis in Österreich gefunden. Vermutlich war es Suizid – im Panikraum, den sie in den Monaten zuvor hatte einrichten lassen. Der Hass und die Bedrohung gegen sie wurden übermächtig. Monatelang war sie dem ausgesetzt, online und offline. „Hass im Netz“ und die Frage, wie er ins analoge Leben „überschwappt“, sind seitdem zu einem noch größeren Thema in der öffentlichen Diskussion in Österreich und Deutschland geworden.
Es ist wichtig, die Mechanismen zu untersuchen und zu diskutieren, mit denen sich Hass im Internet verbreiten und Menschen radikalisieren kann, um juristische, zivilgesellschaftliche und technische Mittel dagegen zu finden. Wenn es jedoch nicht gerade um die Verbreitung geht, sollten wir uns vom Begriff „Hass im Netz“ trennen.
Hass ist nicht in erster Linie digital. Hass ist schlicht Hass. Nur von „Hass im Netz“ zu sprechen wird seiner teilweise tödlichen Wirkung nicht gerecht. Menschen können auf vielen Wegen beleidigt oder verleumdet werden. Eine Morddrohung kann auch per Post kommen oder an die Hauswand gesprüht werden. Trotzdem würde in einem solchen Fall niemand von „Hass im Graffiti“ sprechen. Entscheidender als das Medium ist die Botschaft.
Vergangenen Samstag hetzte ein sogenannter Islamkritiker auf einer Kundgebung in Frankfurt gegen Menschen mit Migrationsgeschichte. Der SPD-Stadtverordnete Omar Shehata rief ihm genau das zu. Die Hetze des „Kritikers“, die er vermutlich als Kritik bezeichnen würde, und seine Reaktion auf Shehata sind inzwischen auf Youtube gelandet. In den Kommentarspalten geht der Hass nun weiter. Auch wenn er sich dort verbreiten und radikaler werden konnte: Er hat dort nicht begonnen.
Hass bleibt nicht im Internet
Er begann recht mittelalterlich auf einem Platz in einer Stadt, wo einzelne Personen an den Pranger gestellt wurden. Auch dieser Hass hat Auswirkungen, die weit über das Digitale hinausgehen. Shehata hat inzwischen laut eigener Aussage Drohungen gegen sich und seine Familie erhalten. Die Frankfurter Rundschau berichtet, dass er nun überlege, sein Mandat aufzugeben.
Hass macht es sich nicht im Internet gemütlich und bleibt dort. Er „schwappt nicht über“ ins analoge, das oft auch als „reales“ Leben bezeichnet wird, so, als wären Geschehnisse im Internet weniger real. Warum sollte ein Mensch einem anderen eine digitale Hassbotschaft schicken, wenn nicht mit dem Ziel, diese Person ganz analog emotional zu verletzten?
Eine Folge dieses Hasses ist der Tod von Lisa-Maria Kellermayr. Der Hass richtete sich gegen sie seit November 2021. Auf Twitter berichtete Kellermayr über eine Demonstration von Verschwörungsideolog*innen, die den Haupteingang einer Klinik und die Rettungsausfahrt des Roten Kreuzes blockiert hatten. Die Polizei erklärte später, die Krankenwagen hätten doch noch einen Hinterausgang nutzen können. Und dann fiel der Mob über Kellermayr her.
Da ist er, der „Hass im Netz“, der zuerst ein Krankenhaus behindert und mutwillig in Kauf nimmt, dass hilfsbedürftige Menschen keine Hilfe bekommen. Und der dann verleumdet, beleidigt, bedroht. Bis eine Frau tot im Panikraum ihrer Praxis liegt.
2019 führte YouGov im Auftrag von Campact e. V. eine Studie durch, ausgewertet vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Dabei sagten zwei Drittel der Menschen, die bereits persönlich mit Hasskommentaren im Internet angegriffen wurden, sie hätten eine oder mehrere der folgenden Auswirkungen erlebt: emotionalen Stress (33 Prozent), Angst und Unruhe (27 Prozent), Depressionen (19 Prozent), Probleme mit dem Selbstbild (24 Prozent), Probleme in Arbeit oder Bildungseinrichtung (15 Prozent). Bei den Menschen unter 25 Jahren war das Ergebnis noch drastischer, ebenso bei weiblichen Teilnehmer*innen. Diese Folgen sind schwerwiegend. Hass kann traumatisieren, er zieht Energie.
Menschen verlassen Twitter, um sich zu schützen
Für manche Betroffene gibt es auch finanzielle Folgen. Es ist teuer, juristisch gegen die Hassenden vorzugehen. Und es kann teuer werden, wenn Hassende den Betroffenen selbst Abmahnungen schicken. In einem Youtube-Video, in dem der auf Social Media bekannte Jurist Chan-jo Jun erklärt, warum er sich kürzlich von Twitter zurückzog, spricht er auch über eine Flut von Abmahnungen. Bald könnte auch auf die Gegner*innen von Marie-Luise Vollbrecht eine derartige Flut zukommen.
Die Doktorandin, die wegen eines wissenschaftlich umstrittenen Vortrags zu Geschlecht und wegen transfeindlicher Äußerungen in der Kritik steht, hat einen Spendenaufruf gestartet, um juristisch gegen ihre Kritiker*innen vorzugehen. Bis Freitag hatte sie bereits über 33.000 Euro gesammelt. Unterstützt wird der Aufruf von reichweitestarken Rechtspopulist*innen und Transfeind*innen.
Eine Kritikerin Vollbrechts ist die Medizinsoziologin Dana Mahr. Sie hatte Vollbrechts verschobenen Vortrag in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau eingeordnet. Danach wurde auf sie gezielt. Laut Mahr hat sie zahlreiche Hassnachrichten bekommen, ihre Adresse ebenso wie die ihrer Eltern wurde veröffentlicht, ein Fenster eingeschmissen. Mahr, ihre Frau und ihr Kind mussten ihr Zuhause verlassen.
Mehrere Menschen haben nun, um sich vor solchem Hass zu schützen, Twitter verlassen. Etwa die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl oder die Ärztin Natalie Grams-Nobmann. Sie werden der Debatte auf Twitter fehlen. Und der Hass, der sich gegen sie richtete, wird bleiben und sich neue Ziele suchen. Er wird online und offline stattfinden.
Und auch, wer Twitter jetzt verlässt, bleibt ihm somit ausgeliefert. Man sieht ihn an Bushaltestellen, die von Nazis mit Stickern beklebt werden. Er bleibt einen Moment im Flur hängen, wenn wieder eine verschwörungsideologische Coronademo vorm Haus durch die Megafone plärrt. Und er wird noch viele Menschen zu Hause aufsuchen in Form von Stalker*innen, Steinen, angezündeten Autos, Gewalt. Der Hass lässt sich nicht im Netz einsperren, er ist überall und bedingt sich. Er zielt darauf ab, Menschen zu verletzen oder gar zu töten. Nicht online oder offline, sondern generell.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers