Handel mit Lateinamerika: Warum Italien das Mercosur-Abkommen vorerst verhindert
Giorgia Melonis rechte Regierung ist ins Tauziehen der Lobby-Gruppen geraten: Die Bauern wollen etwas ganz anderes als die Industrie.
Eigentlich war alles schon in trockenen Tüchern. Am 20. Dezember sollte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit den Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay das Mercosur-Handelsabkommen unterzeichnen. Doch aus der Unterschrift wird vorerst nichts, dank der Opposition mehrerer Länder im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, der am Donnerstag in Brüssel tagte.
Zu den ablehnenden Regierungen Polens, Ungarns und Frankreichs stieß zuletzt auch die italienische unter der postfaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hinzu, sodass die nötige Sperrminorität ich Europäischen Rat erreicht wurde. Meloni fordert weitere Verhandlungen, um den Schutz der europäischen Landwirte vor „unlauterem Wettbewerb“ zu erhöhen. Wenige Tage vor dem europäischen Gipfel griff sie zum Telefon, um Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ihre Bedenken zu erläutern.
Lula selbst lieferte eine Zusammenfassung des Telefonats: „Ich habe mit Meloni gesprochen und sie erklärte mir, dass sie nicht gegen das Abkommen ist, sondern dass sie sich wegen der italienischen Landwirte in einer gewissen politischen Verlegenheit befindet, doch dass sie sicher ist, sie überzeugen zu können für die Zustimmung“, berichtete der Brasilianer.
Mit der Verlegenheit Melonis gegenüber den Bauern trifft Lula gewiss einen Punkt. Die in Rom regierende Rechtskoalition hat in dem großen und mächtigen Bauernverband Coldiretti einen wichtigen politischen Verbündeten. Der Coldiretti-Präsident Ettore Prandini geht im Landwirtschaftsministerium ein und aus, Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida ebenso wie Meloni selbst sind immer wieder die Stargäste bei den Kongressen oder Großveranstaltungen des Verbands.
Bauern warnen vor lateinamerikanischen Produkten
Das Mercosur-Abkommen sieht die drastische Reduzierung der Zölle um etwa 90 Prozent zwischen den vier südamerikanischen Staaten und der EU sowohl auf Industrie- als auch auf Agrarprodukte vor. Europas Landwirten ist das ein Dorn im Auge, wie die heftigen Proteste von mehr als 10.000 Demonstrant*innen am Donnerstag in Brüssel zeigten. Die Bauern fürchten, dass in Zukunft südamerikanisches Rind- und Hähnchenfleisch, Zucker und Reis die europäischen Märkte fluten werden.
Coldiretti sieht in dem Abkommen „mangelnde Reziprozität“ zwischen beiden Seiten, die nicht nur für unlauteren Wettbewerb, sondern auch für „potentielle Gesundheitsrisiken der Verbraucher“ sorge: „Es genügt, an den Einsatz von Antibiotika und anderer Substanzen in den südamerikanischen Ländern als Wachstumshelfer in den Zuchtbetrieben oder an den massiven Einsatz von in Europa seit Jahren verbotenen Pestiziden zu denken“, beschwert sich Coldiretti.
Auch in der EU bestehende Verbote bei den Pestiziden würden von südamerikanischer Seite einfach umgangen; nicht umsonst erfolge der Import von 90 Prozent der Agrarprodukte aus den Mercosur-Ländern über den Hafen Rotterdam, weil dort „totale Unzulänglichkeit der Kontrollen herrscht und alles reinkommt“.
Wenn es nach Meloni geht, sollen die Schutzklauseln des Mercosur-Abkommens deshalb nachgebessert werden. Das bringt ihr allerdings nicht nur Gegenwind von den Vertragsbefürwortern in Europa ein, Deutschland und Spanien zum Beispiel, sondern auch von heimischen Interessenverbänden, die mindestens genauso mächtig sind wie die Coldiretti.
Vorneweg ist das der Industriellenverband Confindustria und dessen Lebensmittelsparte Federalimentari. Gerade industriell verarbeitete Lebensmittelprodukte, beginnend bei der Pasta oder Tomatenkonserven, gehören zu Italiens Hauptexportschlagern – und die Federalimentari bewertete ihrerseits die vereinbarten Schutzklauseln des Abkommens als „solide und effizient“, zum Verdruss des Bauernverbands. Es liegt nun an Ministerpräsidentin Meloni, sowohl auf dem internationalen Parkett als auch im eigenen Land die Quadratur des Kreises hinzubekommen.
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