Haiti im Chaos: Eine Krise mit langer Vorgeschichte
Gangs terrorisieren Haiti, die öffentliche Ordnung ist zusammengebrochen. Wie kam es soweit? Fragen und Antworten.
Was sind die Ursachen für die aktuelle Krise in Haiti?
Der Zerfall staatlicher Institutionen nahm schon unter dem letzten Präsidenten Jovenel Moïse erschreckende Ausmaße an. Die Entwendung von Hilfsgeldern nach dem großen Erdbeben 2010 wurde in einem Senatsbericht nachgewiesen. Viele haitianische Politiker waren darin verwickelt. Auch Moïse selbst zählte zu den Beschuldigten.
Doch zu einer juristischen Aufarbeitung, die von einer großen Bewegung in Haiti und in der Diaspora gefordert wurde, kam es nicht. Stattdessen verübten im November 2018 Gangs im Auftrag der Regierung einen bewaffneten Überfall auf La Saline, einen widerständigen Stadtteil in der Metropolenregion Port-au-Prince. 70 Menschen wurden bei dem Überfall ermordet. Die Brutalität beendete die friedliche Bewegung, die eine Aufarbeitung gefordert hatte.
Auch die internationalen Akteure, damals versammelt in der sogenannten Core Group (unter anderem USA, Kanada, Frankreich, Deutschland, die EU) und die UN-Sondermission in Haiti legten keinen Wert auf ordentliche Prozesse und hielten an Präsident Moïse fest, bis dieser 2021 in seinem Haus unter Beteiligung kolumbianischer Söldner ermordet wurde. Dabei stand Ariel Henry, Haitis in dieser Woche zurückgetretener Ministerpräsident, in telefonischem Kontakt mit einem der Auftraggeber. Wer das für einen Krimi hält und nicht für Politik, liegt nicht ganz falsch.
Warum sind die Gangs in Haiti so stark?
Bereits unter der Diktatur der Duvaliers, die bis 1988 50 Jahre lang das Land beherrschten, gab es die berüchtigte Tonton Macoute, eine paramilitärische Gruppe. Sie verfolgte, folterte und ermordete die linke politische Opposition. Darin unterscheidet sich Haiti nicht von anderen lateinamerikanischen Ländern, die in Zeiten des Kalten Krieges mit Unterstützung der USA von Militärdiktaturen beherrscht wurden, die Todesschwadrone unterhielten.
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Nach dem Ende der Diktatur gab es in den großen Elendsvierteln große bewaffnete Gruppierungen, die sich nicht der Staatsgewalt unterordneten. Sie genossen teils auch durchaus Unterstützung der Bevölkerung in ihren Herrschaftsgebieten. Die 200 bis 300 Gangs heute sind kriminelle Wirtschaftsunternehmen, die von Drogenhandel, Entführungen und Aufträgen für Politiker leben. Sie sind hochgerüstet und setzen, wie beim Überfall auf das Nationalgefängnis Anfang März, auch Drohnen ein.
Sind die Gangs an allem schuld?
Die Gangs sind Symptom, aber nicht Ursache der Krise. Sie rekrutieren ihre Mitglieder aus den ärmsten Vierteln, die sich seit dem verheerenden Erdbeben von 2010 mit hunderttausenden Toten in einem katastrophalen Überlebenskampf befinden. Auswärtige Staaten und Staatenbünde, die für eine lange Geschichte der militärischen, politischen und ökonomischen Interventionen in Haiti verantwortlich sind, haben sich vor allem auf die Bekämpfung der Gangs konzentriert.
Dafür wurde die UNO eingesetzt, um unter ihrer Obhut von 2004 bis 2017 eine Militärmission durchzuführen. Diese UN-Mission, Minustah genannt, kostete täglich eine Million Dollar. Sie stand unter der Führung lateinamerikanischer Militärs, die zum Teil schon in den Diktaturen ihrer Länder einen hohen Militärrang innegehabt hatten.
Die UN-Mission war in Haiti höchst umstritten. Viele sahen darin eine ausländische Besatzung. Es gab Vorfälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch seitens der UN-Soldaten, die nicht vor haitianische Gerichte kamen. Außerdem ist Minustah für den Ausbruch einer Cholera-Epidemie mit 10.000 Toten kurz nach dem Erdbeben von 2010 verantwortlich.
Nach dem Erdbeben 2010 gab es viel internationale Hilfe. Warum kommt Haiti trotzdem nicht auf die Füße?
Die internationale Hilfe nach dem Erdbeben bezeichnete der US-amerikanische Anthropologe Mark Schuller als das „zweite Beben“. Die private wie staatliche Hilfe wurde über die Köpfe der Haitianer abgewickelt. Die Regierung hatte bei der Verteilung nichts zu melden. 80 Prozent der Erdbebengelder sind laut Berichten von haitianischen Menschenrechtsorganisationen in die Geberländer mittels Gehälter oder Gewinne privater Unternehmen zurückgeflossen.
Die Hilfe, die schnell Projekte abwickeln wollte, um Geber und Spender zu befriedigen, hat zur Zerstörung der haitianischen Souveränität beigetragen. Es gab und gibt kein langfristiges ökonomisches und soziales Wiederaufbauprojekt.
Ist Haiti ein Sonderfall?
Ja. Und zwar – historisch gesehen – im positiven Sinn. Zeitgleich mit der französischen Revolution 1789 brach in Haiti, damals die wichtigste Kolonie Frankreichs, ein Sklavenaufstand aus. Der war erfolgreich. 1804 erlangte Haiti die Unabhängigkeit und verabschiedete eine Verfassung, die jedem Schwarzen die Bürgerrechte verlieh. Wer Bürger oder Bürgerin war, war schwarz.
Auch die polnischen Soldaten, die von Frankreich zwangsrekrutiert wurden und dann zur Revolution überliefen. Schwarz war abgekoppelt von der Hautfarbe, es war eine Metapher, die für allgemeine Bürgerrechte stand. Kein Universalismus des Rechts ohne die haitianische Revolution. Haiti war nach den USA das erste Land, das seine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht erlangte – und anders als die USA damals noch dazu die Sklaverei abschaffte.
Warum war die Revolution aber dauerhaft kein Erfolg?
Dafür gibt es viele verschiedene Gründe. Manche Revolutionäre wollten den Reichtum Haitis genießen und die Plantagenwirtschaft fortsetzen, wogegen es Aufstände gab. Haiti wurde von Frankreich 1825/38 gezwungen, als „Entschädigung“ für entgangene Gewinne aus Sklavenarbeit Zahlungen von 90 Millionen Goldfrancs vertraglich zuzusagen.
Dafür gab es keine militärischen Angriffe von Frankreich mehr. Haiti bezahlte diese Schulden bis 1947 ab. Statt Freiheit gab es Schuldknechtschaft. Statt einer autonomen landwirtschaftlichen Entwicklung Raubbau und Verkauf auf dem internationalen Markt.
Ministerpräsident Ariel Henry ist zurückgetreten. Wie geht es jetzt weiter?
Haiti wird wieder aus den Schlagzeilen verschwinden. Aber die Probleme des Karibikstaats werden bleiben. Sie lassen sich mit militärischen Mitteln nicht lösen. Der Westen, der an der Katastrophe Haitis ein großes Maß Verantwortung trägt, müsste umdenken und eine langfristige ökonomische und soziale Entwicklung fördern, statt Haiti als Arbeitskräftereservoir zu behandeln.
Gibt es denn auch gute Nachrichten?
Wenn es keinen Staat gibt, helfen sich die Leute selbst. Das kann man an der Grenze zur Dominikanischen Republik sehen. Dort haben haitianische Bauern in Selbstorganisation einen Kanal fertig gebaut, um so die Bewässerung ihrer Felder zu sichern.
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