Häusliche Gewalt in Zeiten der Isolation: Die Stille trügt
In Hamburg werden bislang nicht mehr Fälle häuslicher Gewalt gemeldet. Fachleute vermuten, weil den Betroffenen die Freiräume fehlen.
„Wenn Frauen jetzt mit ihrem Partner viel mehr zu Hause sein müssen, gehen Zeitfenster verloren, wo der Partner zur Arbeit geht oder die Frau Kinder zur Schule oder Kita bringt“, sagt Anika Ziemba, Mitarbeiterin im 4. Hamburger Frauenhaus. „Das sind normalerweise die Zeitfenster, die Frauen haben, um sich über Hilfsangebote zu informieren.“
Daher sei es wenig überraschend, dass sich bisher nicht mehr Frauen an Beratungsstellen wendeten. Außerdem herrsche bei vielen Betroffenen Verunsicherung darüber, ob Beratungen überhaupt stattfinden, da durch Kontaktsperren und Schließungen der Eindruck entstehe, alles stehe still. Ziemba geht deshalb von einer erhöhten Dunkelziffer aus.
Auch Polizeisprecher Holger Vehren sagt, dass keine statistische Zunahme von Beziehungsgewalt zu erkennen sei. Bis es zu einer Anzeige bei der Polizei komme, hätten die Frauen meistens jedoch bereits eine „lange Gewaltspirale“ erfahren. Es sei somit nicht auszuschließen, dass die Situation in einigen Wochen eine andere sein werde.
In der Regel sind alle Plätze belegt
Die Sozialbehörde ist darauf vorbereitet, zur Not spontan neue Frauenhaus-Plätze zu schaffen, indem weitere Unterkünfte angemietet werden. „Wir haben zusätzliche Raumkapazitäten geschaffen, um weiterhin jederzeit verfügbare Kapazitäten zu haben und auf etwaige Bedarfe zur Isolierung reagieren zu können – nicht, weil die Zugangszahlen höher wären oder der Platzbedarf nicht mehr zu decken wäre.“
In der Praxis sieht das jedoch anders aus. Regulär gibt es in Hamburg 194 Frauenhausplätze, die in der Regel belegt sind. Oft müssen Frauen an andere Hilfsstellen in umliegenden Bundesländern vermittelt werden. „Bereits vor der Coronapandemie waren die Frauenhäuser seit Jahren überlastet“, kritisiert Cansu Özdemir, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion. „Laut Istanbul-Konvention fehlen in Hamburg rund 200 Schutzplätze für akut von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder.“
Anika Ziemba bestätigt, die Frauenhäuser seien „immer voll ausgelastet“. Das betreffe nicht nur die Räumlichkeiten, sondern auch das verfügbare Betreuungspersonal. Normalerweise komme eine Mitarbeiterin auf acht Frauen – doppelt so viele wie von der Zentralen Informationsstelle der Autonomen Frauenhäuser (ZIF) empfohlen. Gegenwärtig müsse die persönliche Betreuung der Frauen wegen des Infektionsrisikos bereits heruntergeschraubt werden. Dabei benötigten die Betroffenen gerade in unsicheren Zeiten mehr Zuspruch und Unterstützung. „Wir brauchen erweiterte Personalressourcen“, fordert Ziemba.
Dafür gebe es jedoch von der Sozialbehörde keine Zusicherung. Auf Anfrage der taz zu zusätzlichem Not-Personal heißt es, „je nach Fallkonstellation“ bestehe die „Möglichkeit einer weiteren Unterstützung“. Das ist keine Absage, gibt den Mitarbeitenden in den Anlaufstellen aber auch nur wenig Sicherheit. Schließlich müssten Sozialarbeiter*innen gesondert geschult werden, um teilweise traumatisierte Frauen und Kinder ausreichend zu betreuen, meint Ziemba. Das erfordere eine langfristige Planung, deswegen sei schnelles, vorausschauendes Handeln erforderlich.
Erst nach der Krise wird sich zeigen, wie gravierend sich häusliche Isolation, Verunsicherung und Stress auf bestehende Machtstrukturen in Familien und Partnerschaften auswirken. Bis dahin macht die Sozialbehörde „durch Öffentlichkeitsarbeit auf Angebote aufmerksam, mit denen sich Betroffene oder Ratsuchende Hilfe holen können“. Solange soziale Strukturen wie Arbeit, Schule, Kita und soziales Umfeld jedoch wegfallen, gerät Gewalt innerhalb der eigenen vier Wände noch stärker ins Unsichtbare. „Gewalt funktioniert nur, weil wir nicht darüber sprechen.“, sagt Anika Ziemba. Das gelte nicht erst seit Coronazeiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen