Gutachten zum „Amoklauf“ in München: Staatsanwaltschaft stellt sich taub
Für die Gutachter war der angebliche „Amoklauf“ ein rechtsextremes Hassverbrechen. Die Anklagebehörde widerspricht diesem Befund.
![Besucher legen Blumen am Denkmal in München nieder Besucher legen Blumen am Denkmal in München nieder](https://taz.de/picture/2310404/14/19305393.jpeg)
Im Kleinen Sitzungssaal des Neuen Rathauses vertrat einer der Gutachter, der Politikwissenschaftler Florian Hartleb die Ansicht, der angebliche Amoklauf sei in Wirklichkeit ein sorgsam geplantes, rechtsextremes Hassverbrechen und ein Terroranschlag gewesen. Dass sich S. vorrangig für Mobbing in der Schule habe rächen wollen, reiche als Erklärung nicht aus.
Das Geschehen könne „als Akt eines allein handelnden Terroristen“ bezeichnet werden, heißt es im Gutachten des Direktors des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Matthias Quent. Dabei seien allerdings persönliche und politische Faktoren „untrennbar miteinander verschmolzen“. Im Ergebnis müsse die Tat zwingend als „politisch motivierte Kriminalität“ eingeordnet werden.
Staatsanwaltschaft bleibt bei ihrer Haltung
Die Münchner Staatsanwaltschaft widerspricht diesem Befund. „Wir sehen nach wie vor das vom Täter erlittene Mobbing im Vordergrund“, sagte die Oberstaatsanwältin Gabriele Tilmann. Der Täter sei einer rechtsextremen Einstellung gefolgt, doch seien die Kränkungen „tatauslösend“ gewesen. Auch der Leiter der Sonderkommission des Bayerischen Landeskriminalamts, Jürgen Miller, sagte, der Mehrfachmord sei „von Rache und Wut geleitet“ gewesen. Die bayrische Landesregierung teilt diese Einschätzung.
David S. hatte am 22. Juli 2016, dem fünften Jahrestag des rechtsterroristischen Breivik-Massakers in Norwegen, bei einem monatelang geplanten Amoklauf neun Menschen erschossen, die meisten waren Jugendliche mit türkischem und albanischem Migrationshintergrund. Danach tötete er sich selbst, bevor die Polizei ihn stellen konnte.
Der Berliner Professor für Politikwissenschaft und Soziologie Christoph Kopke sieht ebenfalls ein politisches Motiv, meint aber, die psychischen Erkrankungen von David S. seien „der eigentliche Antrieb“ für die Tat gewesen. Es sei dem Täter „nicht darum gegangen, eine politische Aussage zu treffen“, meint Kopke.
Grüne und Linke fordern Neubewertung
Nach Auskünften des Innen- sowie des Justizministeriums in Bayern hatte der Attentäter am Tag des Amoklaufs auf seinem Computer eine Datei erstellt mit dem Titel: „Ich werde jetzt jeden Deutschen Türken auslöschen egal wer“. Zudem gaben die Ministerien Einblick in das „Manifest“, das der 18-Jährige ein Jahr vor der Tat geschrieben hatte. Darin schreibt er von „ausländischen Untermenschen“ mit meist „türkisch-balkanischen Wurzeln“.
Insgesamt drei Gutachter untersuchten im Auftrag der Stadt München die Hintergründe des Gewaltakts. Verschiedene Medien, darunter die Süddeutsche Zeitung und der Westdeutsche Rundfunk (WDR), hatten schon vorab über einige Ergebnisse der Gutachten berichtet.
Politiker von Grünen und Linken, darunter die Vizepräsidentin des Bundestages Petra Pau und die Grünen-Fraktionschefin im bayerischen Landtag, Katharina Schulze, hatten daraufhin in der taz von der bayrischen Staatsregierung und den Behörden verlangt, den Fall neu zu bewerten und die Tat als rassistischen Terroranschlag einzustufen. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) hatte bereits bei der Gedenkfeier zum Jahrestag des Massakers am 22. Juli 2017 eine Neubewertung angemahnt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Überraschung bei U18-Wahl
Die Linke ist stärkste Kraft
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Absturz der Kryptowährung $LIBRA
Argentiniens Präsident Milei lässt Kryptowährung crashen
Ukraine-Verhandlungen in Saudi-Arabien
Wege und Irrwege aus München