Gut-und-Böse-Erzählungen: Kampf um Worte
Polarisierung ist Teil totalitärer Systeme und soll Macht sichern. Das geschieht insbesondere mit Sprache und der Einteilung in richtig und falsch.

S ophie von der Tann solle doch den Job wechseln, wenn sie lieber Aktivistin wäre, schrieb der israelische Botschafter Ron Prosor vor Kurzem auf der Plattform X – und warf ihr „Anti-Israel“-Aktivismus vor. Von der Tann, muss man wissen, ist Korrespondentin der ARD in Israel. Der Grund für Prosors Kritik: Die Journalistin hatte auf Instagram einen Artikel der New York Times gepostet, den der Historiker Omer Bartov verfasst hat. Der Titel des Textes: „Never again. I am a Genocide Scholar. I know it when I see it.“ Es war wohl dieses eine Wort, das den Botschafter veranlasste, die Journalistin zu kritisieren: Genocide.
Genozid. Völkermord. Das Aussprechen oder Nichtaussprechen dieses einen Wortes wird in der deutschen Debatte genutzt, um Menschen in „Seiten“ aufzuteilen – in „propalästinensisch“ (ergo antiisraelisch) und in „proisraelisch“ (ergo antipalästinensisch). Es gibt in dieser Erzählung genau zwei Seiten: Gut und Böse. Wer das Wort Genozid benutzt, ist in dieser Erzählung „gut“ oder „böse“ – je nachdem, wen man fragt. Polarisierung ist für Krieg und Gewalt essenziell. Kein Krieg ohne Polarisierung.
In autoritären Staaten oder bei Terrorgruppen ist der behauptete Kampf gegen „das Böse“ systemimmanent, weil Polarisierung zentraler Teil autoritärer Systeme ist. Wladimir Putin kämpft gegen „Nazis“ in der Ukraine (stellvertretend für das ultimative Böse). Die Hamas kämpft gegen Israel und Jüdinnen und Juden (stellvertretend für das ultimative Böse). Polarisierung soll gewaltvolles und grausames Vorgehen rechtfertigen und eine heldenhafte Erzählung generieren. Es soll vor allem eines: Macht sichern.
Denn wer gegen das Böse kämpft, steht selbst auf der guten, der moralischen Seite. Jede Opposition, jedes Widerwort ist damit von vornherein delegitimiert – es wird automatisch zu einem Teil des „Bösen“ erklärt. Das wiederum rechtfertigt eine uneingeschränkte Machtansammlung und -ausübung. Teile und herrsche: Ein seit Jahrhunderten bewährtes Herrschaftsinstrument. Nicht nur in autoritären Systemen. Der US-amerikanische Präsident George W. Bush sprach 2002 von der „Achse des Bösen“, gegen die die USA kämpfen müssten. In den Kriegen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 tötete die US-Armee mehr als 400.000 Menschen, die nichts mit dem „Bösen“, mit Terror oder Krieg zu tun hatten.
Im Kampf gegen „das Böse“ ist alles erlaubt, auch das Töten von Unbeteiligten. Von Jugendlichen, Kindern, Babys, Familien, Frauen, Männern. Es geschieht schließlich im Namen des „Guten“. Wenn hier vom „Bösen“ die Rede ist, dann nicht, um in Abrede zu stellen, dass es Böses gibt. Auf der ganzen Welt geschehen gewaltvolle, böse Taten. In der Gut-gegen-Böse-Erzählung steht das „Böse“ aber nicht für konkrete Gewalttaten. Das „Böse“ fungiert als Archetyp und nimmt eine fast transzendentale Stellung ein. Es erfüllt eine Funktion.

Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Während die israelische Armee Menschen tötet und aushungert, während die Hamas immer noch Menschen in Geiselhaft hält und unzählige getötet hat, streiten sich global Menschen darüber, wer auf der „richtigen“ und wer auf der „falschen“ „Seite“ steht. Wer Genozid sagt und wer nicht. Wer moralisch ist und wer nicht. In den USA bezeichnet die Trump-Administration im Sinne der Gut-gegen-Böse-Erzählung inzwischen alle Menschen, die sich für Palästinenser:innen einsetzen, als Teil des Hamas Support Network (HNS). So wird jegliche Opposition gebrochen.
Durch die Tech-Plattformen wird die Gut-gegen-Böse-Erzählung milliardenfach verbreitet. Von Medienschaffenden, Politiker:innen, Aktivist:innen, Influencer:innen – all jenen, die der Soziologe Steffen Mau als „Polarisierungsunternehmer“ bezeichnet. Polarisierung bringt Macht, politischen Einfluss, Aufmerksamkeit. Es entsteht der Eindruck, als stünden alle Menschen auf einer der beiden „Seiten“. Das ist eine Lüge. Es gibt keine Seiten. Die Seiten sind von Machtstrukturen konstruiert.
Die Mehrheit der Menschen verabscheut Gewalt, egal gegen wen. Diese Mehrheit ist aber nur selten sicht- und hörbar. Stattdessen scheint das Licht der Öffentlichkeit (und der Algorithmen) auf Menschen, die polarisieren, die von Seiten reden, die Menschen einteilen nach gut und böse. Antisemiten, Rassisten, Faschisten, Rechtextremisten, Terroristen – auf die allerwenigsten Menschen treffen diese Begriffe zu. Aber sie bestimmen den Diskurs. Und das hat System.
Empathie für die eigene Seite
Polarisierung zerstört Empathie. Wer sich auf der moralisch „richtigen“ Seite sieht, hat viel Empathie für die eigene „Seite“ – aber keine für die andere. Man hält Gewalt sogar dann für gerechtfertigt, wenn sie sich gegen Kinder richtet. Denn Polarisierung im Krieg soll die „urmenschliche Abneigung“ gegen Gewalt, wie der Historiker Rutger Bregman es beschreibt, ausschalten. Es funktioniert. Diese emotionale Radikalisierung führt dazu, dass manche Menschen Bilder von ausgehungerten Babys in Gaza sehen können und kein Mitgefühl haben.
Diese emotionale Radikalisierung führt dazu, dass manche Menschen Bilder von getöteten Kleinkindern in Israel sehen können und kein Mitgefühl haben. Bei kleinen Kindern ist diese emotionale Radikalisierung besonders spürbar. Sie tragen für nichts Schlechtes auf dieser Welt Verantwortung. Wer an Seiten glaubt, wer an die Gut-gegen-Böse-Erzählung glaubt, wird Mitgefühl verlieren. Und Mächtige haben es leicht, Gewalt und Krieg fortzuführen.
Wenn Menschen angegriffen werden, weil sie vom Genozid sprechen (oder nicht), geht es nicht um die Menschen, die unter Krieg und Gewalt leiden. Ginge es um die von Gewalt betroffenen Menschen, dann würden alle darauf verzichten, recht haben und auf der „guten“ Seite stehen zu wollen. Dann würde nicht darüber gestritten, wer „böse“ ist und wer „gut“. Dann würde gemeinsam demonstriert. Gegen Mächtige, die Menschen töten und töten lassen. Denn die meisten Menschen wollen nur eines: dass Menschen aufhören, andere Menschen umzubringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Klage gegen Tierrechtler*innen
Das System der Einschüchterung
Jan van Aken
„Keine Solidarität mit Hungermördern“
Zahlen der Jobcenter
Keine Belege für eine große Bürgergeld-Mafia
Unglück beim Bergsteigen
Olympiasiegerin Laura Dahlmeier ist tot
Schluss machen mit Spotify
Es ist aus
Rechtes Paradoxon
Warum AfD und Junge Freiheit plötzlich gegen eine Abschiebung sind