: Gusi, im Anzug, spult herunter
aus Wien RALF LEONHARD
Das ist kein ärmlicher Markt. Das ist ein moderner Shopping-Komplex. Türkische Verkäufer rufen Bananen für 79 Cent das Kilo aus. Aus dem Fleischerladen strömt der würzige Geruch von warmem Leberkäse. Die Zeiten sind längst vorbei, als der Meiselmarkt nur eine Ansammlung von Kiosken in einem der heruntergekommensten Bezirke Wiens war. Wenige Schritte entfernt, auf dem offenen Platz hinter dem Markt, wird eine Bühne aufgebaut. Während über die Leinwand schon Bilder des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Alfred Gusenbauer und das Signet der „Mensch-zu-Mensch-Tour 2002“ huschen, klappen Helfer nebenan ein paar Tapezierertische aus und stellen Thermosfässchen darauf. Mit Punsch, Glühmost und Tee soll dem Volke das Herz erwärmt und die Wahlentscheidung zugunsten der SPÖ erleichtert werden.
Die wenigen Bänke unter dünnen Bäumen, von denen der Herbstwind bereits das letzte Laub gerissen hat, beginnen sich zu füllen. Man sitzt angenehm, denn der Föhn sorgt an diesem Novembertag für frühlingsgleiche Temperaturen. Eine Pensionistin, das weiße Haar unter einer Wollhaube versteckt, besetzt mit ihren halb leeren Einkaufstaschen gleich eine ganze Bank und erzählt gerne. Sie komme aus einer sozialdemokratischen Familie: „Mein Mann, der war Werkzeugmacher, und auch die Schwiegereltern – die sind schon gestorben, müssen S’ wissen – haben immer rot gewählt. Ich auch.“ Aber dann hätten sie die Sozialdemokraten enttäuscht: „Jeder schaut nur auf seine eigenen Sachen.“
Früher seien das noch Politiker von Format gewesen: „Raab, Figl, Kreisky. Aber in den letzten Jahren: ich bitt' Sie …“ Wem sie diesmal ihre Stimme geben wird, weiß sie nicht. Auf keinen Fall will sie, dass Wolfgang Schüssel Kanzler bleibt. Dessen konservative ÖVP hat im 15. Bezirk wenige Sympathisanten, sie gilt als die Partei der Unternehmer und der Hausbesitzer. „Ich weiß nicht“, sagt die Frau nachdenklich, „vielleicht wähl ich wieder blau.“ Wie schon beim letzten Mal, aus Protest: die rechtspopulistische FPÖ. Die Enttäuschung über eine SPÖ, die sich am Sozialabbau beteiligt hat und von Bankleuten geführt wurde, ist tief. „Bist du verrückt?“, ruft eine Bekannte, „Wenn du blau wählst, dann bleibt doch der Schüssel Kanzler! Mit wem soll der sonst koalieren, wenn nicht mit den Blauen?“ Die Warnerin ist in der Bezirkspartei engagiert, sie trägt einen SPÖ-Aufkleber auf der Jacke. „Lieber mit den Grünen!“, lallt da ein wohlbeleibter Mann, der bereits seinen dritten heißen Punsch abgeholt hat: „Bevor Schüssel bleibt, will ich lieber die Grünen in der Regierung.“ Die Freundin bleibt unschlüssig: „Aber die vielen Ausländer hier. Die sind so dreckig.“ – „Also bei uns im Gemeindebau“, wirft die Frau mit dem Aufkleber ein, „da wohnen auch viele Ausländer. Aber die sind alle sehr nett und können auch Deutsch. Und im Vertrauen: Unsere Leute sind oft die viel größeren Drecksäue.“ Dann kommt sie wieder auf die Regierung zurück: „Meinem Mann haben sie über tausend Euro Pension weggenommen. Der ist herzoperiert und hat Zucker. Früher konnt' er die Medikamente abschreiben beim Finanzamt. Jetzt nicht mehr.“
Rudolfsheim-Fünfhaus ist einer der ärmsten Bezirke und der mit dem höchsten Migrantenanteil. „Die wurden in den Sechzigerjahren geholt, weil die Wirtschaft Arbeitskräfte gebraucht hat“, erklärt Horst Zimmerhakl, ein Aktivist der Bezirks-SPÖ. „Wo und wie die gewohnt haben, hat keinen gekümmert.“ Im Bezirk gab es damals besonders viele Substandardwohnungen: ohne eigenen Wasseranschluss und mit Klo am Gang, das sich alle Parteien im Stock teilen mussten. Dort wurden die türkischen und jugoslawischen Arbeiter untergebracht – zu horrenden Mieten. Ein Biotop, in dem die fremdenfeindliche Stimmungsmache der FPÖ gedeihen musste. Die Konzentration von Ausländern sei in den vergangenen Jahren ein Grund für die massiven Verluste der SPÖ gewesen, sagt Zimmerhakl. Und: „Die FPÖ hat das Thema im Wahlkampf hochgespielt.“ Jörg Haider und die ÖVP haben den Wiener Behörden oft vorgeworfen, die Migranten zu schnell einzubürgern, um deren Stimmen für die SPÖ zu ködern. Horst Zimmerhakls Analyse der Neuwähler ist da differenzierter: „Die eingebürgerten Türken wählen eher SPÖ, denn viele sind eigentlich Kurden und daher links. Die Jugoslawen sind meistens religiös, vor allem die Serben und Kroaten. Von denen sind viele für die ÖVP.“ Und dann gebe es auch solche, die die Haider-Partei wählen, weil sie wollen, dass nicht noch mehr Ausländer nachkommen.
In diesem Wahlkampf plakatiert die FPÖ zwar wieder für strengere Zuwanderungsbestimmungen, doch die Partei ist nach dem politischen Amoklauf Haiders so geschwächt, dass sie die Themen nicht mehr vorgeben kann. Der starke Mann der FPÖ hatte die von ihm mitbegründete Regierung nach schwerem innerparteilichem Streit ein Jahr vor ihrem regulären Ende gesprengt.
Die FPÖ war noch nicht auf dem Meiselmarkt, und sie wird vor der Wahl wohl auch nicht mehr kommen. Sie ist in diesem Wahlkampf kaum wahrnehmbar. Seit Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer am 8. September frustriert den Parteivorsitz niederlegte und Neuwahlen provozierte, hat die Partei fünfmal den Vorsitzenden gewechselt. Kaum war Infrastrukturminister Mathias Reichhold als Spitzenkandidat plakatiert – „Sein Handschlag zählt“ – war er auch schon wieder demontiert. Er wurde mit Herzproblemen ins Spital eingeliefert und übergab die Partei an Sozial- und Frauenminister Herbert Haupt – einen Mann der bei der Basis hohe Beliebtheit genießt, aber wenig Charisma versprüht. Er klammert sich an Jörg Haiders Parolen auf der einen Seite und an die Illusion von einer Fortsetzung der Wendeallianz mit der ÖVP auf der anderen. Seine deutschnationalen Warnungen vor EU-Erweiterung und Einwanderung überzeugen den harten Kern der Freiheitlichen. Bei den Nationalratswahlen 1999 konnte die FPÖ das verunsicherte Proletariat noch zu hunderttausenden von der SPÖ abziehen. Die Belastungspolitik der vergangenen Jahre hat diese Protestwähler heimatlos gemacht.
Inzwischen tut sich was auf der Bühne am Meiselmarkt. Ein kurzer Film über die Untaten der Regierung Schüssel wird abgespielt. Jetzt spricht der Bezirksvorsteher. Für die unmenschliche Politik der letzten Jahre hat er einen Kronzeugen mitgebracht: Herrn Kral, der auf zwei Krücken und einem Bein auf die Bühne balanciert. Sein Bein habe er bei einem Arbeitsunfall verloren, als er 22 war: bei Verschubarbeiten. Durch die Besteuerung der Unfallrenten bekomme er jetzt 40.000 Schilling – mit der neuen Währung tun sich die meisten noch schwer – pro Jahr weniger. Das sind fast 3.000 Euro.
Wenig später erscheint Alfred Gusenbauer, von seinen Anhängern „Gusi“ genannt, persönlich auf der Bühne. „Alfred, Alfred“, tönen die Sprechchöre aus dem Publikum. „Gusi“, im Anzug, spult das Sündenregister der konservativen Regierung herunter: höhere Steuern, höhere Schulden, höhere Arbeitslosigkeit, Haider-Chaos. Unter einer SPÖ-geführten Regierung sollen die Steuern gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt werden. „Manche Leute werden zu Recht fragen, wie wir das alles finanzieren werden.“ Damit kommt er auf eines der Lieblingsthemen: die Abfangjäger, deren Ankauf von ÖVP und FPÖ schon beschlossen war, aber vor der Neuwahl auf Eis gelegt wurde.
Gusenbauer, gecoacht von jenem Stanley Greenberg, der schon Bill Clinton, Nelson Mandela und zuletzt Wiens rotem Bürgermeister Michael Häupl zu großen Wahltriumphen verholfen hat, wirkt souverän aber nicht überheblich. Einem Mann, der offensichtlich wirklich spontan auf die Bühne klettert, um über seine Pensionskürzung zu schimpfen, überlässt er nach kurzem Zögern das Mikrofon. Der 42-jährige Berufspolitiker beherrscht alle Register der Kommunikation. Nach der Ansprache, die keine zwanzig Minuten gedauert hat, steigt er von der Bühne und verschwindet im Volk. Wie ein Popstar signiert er Autogrammkarten und hört sich gleichzeitig die Wünsche und Kritiken seiner Wähler an. Eine Frau beschwert sich, dass er bei der TV-Debatte seinem Gegner Schüssel ins Wort gefallen sei. „Wenn ich es nicht gemacht hätte, würde der jetzt noch reden“, gibt er zur Antwort. Ganz zufrieden ist sie nicht, die ältere Dame, die auf gute Umgangsformen Wert legt. „Aber“, so meint sie dann am U-Bahn-Abgang, „ich denke, ich werde ihn trotzdem wählen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen