Grünen-Landeschefin zu Atomstrom: „Kein Ausstieg vom Ausstieg“
Grünen-Landeschefin Susanne Mertens schließt einen Landesparteitag zur Atomfrage aus. Nur eine entschlossene Energiewende werde das Klima schützen.
taz: Frau Mertens, wo stehen die Berliner Grünen in der aktuellen Diskussion über einen längeren Betrieb der letzten drei deutschen Atomkraftwerke?
Susanne Mertens: Ein erster Stresstest der verantwortlichen Bundesministerien für Wirtschaft und für Umwelt hat schon im März klargemacht: Es gibt einerseits keine Notwendigkeit die drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke länger als über das vereinbarte Abschaltdatum Ende 2022 hinaus am Netz zu belassen. Andererseits stünden einem Weiterbetrieb immense genehmigungsrechtliche, sicherheitstechnische und organisatorische Hindernisse im Weg. Ein Weiterbetrieb wäre auch mit immensen Kosten verbunden.
Also kein klares Ja oder Nein?
Nein – das wäre zu schlicht, die Sache ist zu kompliziert.
Teilweise gibt es ja schon Diskussionen, auch bereits abgeschaltete Reaktoren wieder hochzufahren.
Genau das ist es, was ich mit dem Differenzieren meine: Bei einem Ausstieg vom Ausstieg werden wir nicht mitmachen. Dabei möchte ich nochmals hervorheben, dass wir derzeit ein Wärme- und kein primäres Stromproblem haben. Die Atomenergie übernimmt nur noch circa 6 Prozent der gesamten Stromerzeugung und kann mitnichten unser derzeitiges Problem lösen.
Aber helfen könne die Atomenergie, sagen durchaus nicht wenige.
Ja, aber ohne sich die genaue Faktenlage anzusehen, die letztlich auch zu der Entscheidung des Abschaltens der Atomkraftwerke geführt hat, nämlich das extrem hohe Sicherheitsrisiko, die Endlagerdiskussion und die enormen gesamtgesellschaftlichen Kosten. Frank und frei über eine generelle Laufzeitverlängerung zu reden, wie es derzeit Söder, Kretschmer & Co. machen, finde ich nicht nur verantwortungslos, sondern öffnet die Büchse der Pandora.
Aber Untersuchungen oder Aussagen von zumindest formal qualifizierter Stelle liegen ja schon auf dem Tisch, vom TÜV Süd – also von Ingenieuren, nicht von Politikern oder Journalisten.
Eine privatwirtschaftliche Aktiengesellschaft wie der TÜV Süd kann zum Glück nicht über den Weiterbetrieb einer Hochrisikoanlage wie einem Atomkraftwerk entscheiden. Ich glaube, es ist gut, sich ein paar Dinge mal wieder ins Gedächtnis zu rufen: Warum nämlich 2011, nach Fukushima, entschieden wurde, aus der Atomkraft auszusteigen: Nämlich das bei noch so tollen Sicherungsmaßnahmen verbleibende Risiko, das Endlagerproblem und die immensen gesamtgesellschaftlichen Kosten.
Nennen Sie uns die doch mal.
Ich rede hier nicht nur von den Endlagerkosten, die unsere Folgegenerationen noch teuer zu stehen kommen werden, sondern von allen Kosten, die uns die Atomenergie bisher beschert hat. Allein von 2007 bis 2019 waren das 533 Milliarden, inklusive Fördermittel, Zinsnachlässe, Forschungsgelder und Ähnliches. Alles auf Kosten der Steuerzahler: Keine Energieart ist teurer!
Aber gegenwärtig geht es doch darum, überhaupt Energie zur Verfügung zu haben – der grüne Wirtschaftsminister Habeck versucht ja, überall Energie aufzutreiben.
Das bestreite ich ja auch gar nicht. Ich befürchte bloß, dass von interessierter Seite versucht wird, eine Scheindiskussion in Gang zu bringen, als ob die Versorgungssicherheit allein von Atomstrom abhängen würde. Das ist nicht der Fall. Unsere Bundesvorsitzende Ricarda Lang hat jüngst in einem Interview gesagt, sie habe den Eindruck, dass versucht werde, schon jetzt einen Schuldigen für die mögliche Energieknappheit im Herbst zu finden. Das trifft es aus meiner Sicht ziemlich gut.
Wenn man Frau Lang hört, dann kann man sie so verstehen, dass sie einen kurzfristigen Weiterbetrieb nicht ausschließt, aber den Begriff „Laufzeitverlängerung“ auf keinen Fall in den Mund nehmen mag und stattdessen von „Streckbetrieb“ redet. Das kommt aber sinngemäß aufs Gleiche raus – warum diese Wortkosmetik?
Das ist keine Wortkosmetik. Das ist einfach ein differenzierter Blick auf diese komplexe Situation. Ein Streckbetrieb bedeutet, dass die drei verbliebenen AKWs, deren Brennstäbe noch nicht komplett abgebrannt sind, für eine sehr kurze Zeit weiter im Betrieb bleiben. Dazu läuft ja gerade ein weiterer Stresstest, der prüft, ob das unter Sicherheitsaspekten überhaupt möglich wäre. Das hat nichts mit einem jahrelangen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke und einem Anschaffen neuer Brennstäbe zu tun.
Was aber andere für nötig halten.
Mir kommt es so vor, als ob suggeriert wird, die Atomkraftwerke laufen nun schon seit über 60 Jahren und seien so sicher, dass ein halbes Jahr mehr nicht so viel ausmachen würde. Das ist falsch! Wir schalten die deutschen Meiler ja nicht aus Spaß ab, sondern weil wir das Risiko einer nuklearen Katastrophe auf Null reduzieren wollen.
Das läuft doch auf eine Risikoabwägung hinaus. Fridays for Future und andere vermitteln im Kern, dass der Planet ohne mehr Klimaschutz eher morgen als übermorgen stirbt. Und als Alternative werden Kohlekraftwerke hochgefahren – auch zwei Reserveblöcke im als CO2-Schleuder verschrienen Lausitzer Kraftwerk Jänschwalde sind in der Diskussion.
Atomenergie ist nicht sauber und nicht klimafreundlich. Es wird nicht richtiger, je häufiger es von CDU & Co. wiederholt wird. Natürlich muss man von jeder Energieerzeugungstechnologie die Risiken gewichten. Bei der Atomenergie ist das Risiko existenziell. Keinem von uns macht es Freude, Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen. Deswegen haben wir Grünen dafür gekämpft ein großes Energiewende-Paket zu schnüren. Nur so werden wir unabhängig von fossilen Importen aus Autokratien und sichern unsere Versorgungssicherheit und bleiben bei der Energie bezahlbar.
Werden sich die Berliner Grünen mit diesen Themen noch auf einem Landesparteitag beschäftigen?
Wir sind in diesen Fragen sehr klar. Nur eine entschlossen umgesetzte Energiewende, an der sich alle Bundesländer mit ihrer ganzen Kraft beteiligen, wird uns als Volkswirtschaft und als Gesellschaft stärken und das Klima schützen.
Also kein Extra-Parteitag zur Atomfrage nach den Ferien?
Ich sehe keinen Parteitag, der sich mit einem Atomenergie-Rollback befassen wird, aber über Energiewende werden wir sicher sprechen. Wir haben im Herbst einen Parteitag. Dann ist auch klarer, wie sich alles entwickelt. Hier werden wir uns mit Sicherheit über den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft unterhalten, denn wir wollen, dass alle Menschen gut durch die Krise kommen. Ich bin mir sicher, dass wir ein weiteres Entlastungspaket brauchen.
Den Atomausstieg zum Jahresende in Frage zu stellen ist ja der zweite Hieb für die Grünen binnen weniger Monate nach dem 100-Milliarden-Paket der Ampel-Koalition. Wie geht gerade ein so lange von Christian Ströbele geprägter Landesverband damit um?
Ich erlebe gerade dabei eine sehr geschlossene Partei, eine, die differenziert debattiert. Es mussten Entscheidungen getroffen werden, die gerade Grünen immens weh tun. Ich bin darum sehr stolz, dass unsere Partei in der Lage ist, diese schwierigen Entscheidungen gemeinsam zu tragen. Wir übernehmen in der Regierung im Land und im Bund Verantwortung.
Wobei beim jüngsten Parteitag im April ein Drittel gegen die Militärmilliarden gestimmt hat, und das, obwohl Lisa Paus, damals noch normale Abgeordnete und nicht Ministerin, eindringlichst dafür warb, sich nicht gegen die Aufrüstung zu stellen: Wenn die Grünen da nicht mitmachen, „dann ist das de facto der Koalitionsbruch.“
Wir können uns nicht immer in allen Punkten durchsetzen. Das ist das Wesen einer Dreier-Koalition, auch in der Ampel. Wir haben keine 51 Prozent geholt, aber mit unserem besten Ergebnis bei Bundestagswahlen überhaupt schon viele wichtige Projekte vorangetrieben – zum Beispiel auch das 9-Euro-Ticket. Wir kämpfen für unsere Überzeugungen.
Was diese 51 Prozent und die Wahl angeht: Im September wird das Landesverfassungsgericht verhandeln, ob die Abgeordnetenhauswahl vom vergangenen Jahr wiederholt wird. Wünschen Sie sich Neuwahlen?
Das ist jetzt alles noch ein Blick in die Glaskugel. Erstmal muss das Gericht verhandeln. Wir wissen nicht, wie die Entscheidung ausfällt.
Aber wünschen können Sie sich ja etwas.
Es geht hier nicht um ein Wunschkonzert. Dieses Wahlchaos hat das Vertrauen in unser demokratisches System erschüttert. Würde es aber tatsächlich auf eine umfangreiche Wahlwiederholung hinauslaufen, bedeutet das mindestens ein halbes Jahr, was der Stadt verloren ginge, mit Wahlkampf, Koalitionsverhandlungen und einem neuen Senat. Das geht alles auf Kosten von schnellen Reformen der Stadt. An Spekulationen beteiligen wir uns in keiner Weise. Das gebietet auch der Respekt vor den Verfassungsorganen.
Die Grünen würden aber mutmaßlich stark profitieren und dann im zweiten Anlauf doch noch die Regierende Bürgermeisterin stellen – Ihre Partei liegt in Umfragen vor SPD und CDU.
Wie die Stimmungslage ist, wenn es tatsächlich zu Wahlen komm, weiß man doch gar nicht. Wir Grünen muskeln jetzt nicht auf und drängen nicht auf Neuwahlen, das wäre nicht angebracht. Sollte das Gericht sich für eine Wiederholung entscheiden, sind wir aber darauf vorbereitet
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