Grüne und das Kanzleramt: Kandidatur mit Sprengkraft
Wird Robert Habeck Kanzlerkandidat? Oder Annalena Baerbock? Die Frage könnte einen Keil zwischen das harmonisch agierende Spitzenduo treiben.
Habeck weiß natürlich, dass das recht unernster Quatsch ist. Die Grünen liegen in Umfragen vor der Union, eine nie dagewesene Sensation. Könnten die Deutschen den Bundeskanzler direkt wählen, würden sich laut einer repräsentativen Emnid-Umfrage 51 Prozent für Habeck entscheiden. Nur 24 Prozent fänden die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer besser. Was Habeck als Quatsch abtut, ist inzwischen eine reale Option: der erste grüne Kanzler der bundesdeutschen Geschichte – oder eben die erste Kanzlerin.
Der Lauf der Grünen scheint nicht zu bremsen zu sein. Das Klimathema, ihre große Kompetenz, ist im breiten Mainstream angekommen. Zehntausende SchülerInnen von Fridays vor Future gehen mit urgrünen Anliegen auf die Straße. Und die beiden Vorsitzenden Habeck und Annalena Baerbock wirken im Vergleich mit ScholzLindnerKramp-Karrenbauer geradezu unverschämt gut gelaunt, lässig und zukunftszugewandt.
Längst rauben die Grünen nicht mehr nur der SPD massenhaft Wählerstimmen, sondern auch der CDU. Wie attraktiv sie für konservative Milieus sind, zeigte sich bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern und eindrucksvoll bei der Europawahl, bei der sie es auf Platz 2 unter den deutschen Parteien schafften.
Auf die müde Groko wettet keiner mehr
Vorsichtige Strategen versuchen, den Druck aus der Debatte zu nehmen. Die Legislaturperiode ende erst 2021, sagen sie, und die Wählergunst sei bekanntlich volatil. „Wir beschäftigen uns rechtzeitig mit Wahlkampffragen, wenn Wahlen konkret anstehen“, sagt die Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner, die den Realo-Flügel koordiniert. Solange konzentriere man sich auf gesellschaftliche Fragen und Themen wie den Klimaschutz oder ein gestärktes Europa.
Laut Umfrage stehen die Grünen erneut vor den Unionsparteien. Grüne: 27, CDU/CSU: 25, SPD: 12, FDP: 8, Die Linke: 8, AfD: 13 und Sonstige: 7 Prozent
Damit läge die Groko bei 37, Grün-Rot-Rot bei 47 und ein grün-schwarzes Bündnis bei 52 Prozent.
Im direkten Vergleich würden 51 Prozent der Befragten Robert Habeck zum Kanzler wählen, nur 24 Annegret Kramp-Karrenbauer.
Quelle: Emnid 15. 6. 2019
Das Problem ist nur: Auf die müde Große Koalition wetten in Berlin nicht mehr viele. Wenn das Bündnis platzt, vielleicht noch vor Weihnachten, stünden schnell Neuwahlen an. Für die Grünen wäre das eigentlich nur gut, so könnten sie im Bund die Dividende des Umfragehochs einfahren.
Aber deshalb birgt die K-Frage, anders als es alle suggerieren wollen, Sprengkraft. Sie könnte einen Keil in das Spitzenduo treiben, das bisher sehr harmonisch agiert und so den Erfolg der Grünen prägt. Eine Doppelspitze im Kanzleramt lässt das Grundgesetz nicht zu, zum Leidwesen der quotenverliebten Grünen.
Entscheidend ist deshalb, ob sich Habeck und Baerbock gütlich einigen – oder nicht. „Wenn einer dem anderen den Vortritt lässt, ist alles gut“, sagt ein wichtiger Grüner. „Wenn nicht, dann wird es, äh, interessant.“ Es wäre ein Match der ChefInnen: Weitere BewerberInnen in ihrer Gewichtsklasse sind nicht in Sicht.
Kein Kaninchen aus dem Hut
Bundesgeschäftsführer Michael Kellner ist derjenige, der das Verfahren festlegen und managen muss. Fragt man ihn, wie es mit der Kanzlerkandidatur laufe, sagt er: „Wir wissen um unsere Verantwortung. Und deshalb werden wir die relevanten Fragen rechtzeitig vor einer Wahl beantworten, gemeinsam mit der Partei.“
Wirklich aufregend klingt das nicht, aber in dem Satz stecken mehrere Ansagen. Erstens: Den Grünen ist sehr wohl bewusst, wie riesig der Vertrauensvorschuss der BürgerInnen ist.
Zweitens: Die Kanzlerkandidatur würde im Fall des Falles früh geklärt. Die Menschen müssten wissen, wen sie ins Kanzleramt wählen – dies sei ein Gebot der Transparenz. So sehen es viele in der Partei. Die Variante, mit einer gleichberechtigten Doppelspitze in den Wahlkampf zu ziehen, um dann kurz vor dem Wahlsonntag den oder die Kandidatin wie ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern, ist damit vom Tisch.
Noch eine dritte wichtige Botschaft steckt in Kellners Satz: Die Partei wird an der Entscheidung beteiligt, es gibt also keine Ordre du mufti.
Einfach oder aufwendig
Die gütliche – und einfachste – Lösung sähe so aus: Baerbock sagt Habeck irgendwann unter vier Augen, dass sie ihm den Vortritt lässt. Das könnte sie bei passender Gelegenheit in einem großen Interview verkünden, ein Parteitag müsste die Entscheidung dann nur noch bestätigen. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar. Habeck könnte zugunsten von Baerbock verzichten. Warum sollten ausgerechnet die Grünen den Mann ins Kanzleramt schicken?
Schwieriger wird es, wenn beide den Spitzenjob wollen. Dann müsste vor dem Wahlkampf eine Klärung her. Ein Instrument dafür wäre eine Urwahl. Bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 ließen die Grünen ihre Mitglieder entscheiden, wer den Wahlkampf als Spitzenkandidat anführen soll.
In der Parteizentrale wird allerdings darauf verwiesen, wie aufwändig das Verfahren ist. Die in der Satzung geregelte Urwahl sieht diverse Fristen vor. BewerberInnen müssen sich erstmal melden und dann der Basis in Urwahlforen vorstellen, Stimmzettel versendet und zurückgeschickt werden. Dauer: etwa drei Monate.
Falls die Groko platzt, wäre eine Urwahl nicht machbar, allein aus organisatorischen Gründen. Kellners Leute müssten dann in Windeseile eine Kampagne auf die Beine stellen, Programmprozesse klären und den Wahlkampf organisieren. Entprechend, heißt es bei den Grünen, müsste ein Parteitag ersatzweise über die Kanzlerkandidatur entscheiden. Anders sieht es aus, wenn die Legislaturperiode wie vorgesehen 2021 endet. Dann wäre reichlich Zeit.
Grüne Frauen für Baerbock
Bisher ist völlig offen, wie sich das Spitzenduo entscheidet. Beide ChefInnen bringen unterschiedliche Qualitäten mit, beide können mit Recht Ansprüche geltend machen. Habeck liegt in Beliebtheitsumfragen für SpitzenpolitikerInnen regelmäßig ganz vorn. Er ist der wesentlich Prominentere und wird von vielen Medien präferiert. Anders als Baerbock verfügt er über Regierungserfahrung, weil er in Schleswig-Holstein sechs Jahre lang Minister für Umwelt, Landwirtschaft und Energiewende war.
Aber Baerbock ist auch nicht ohne. Sie gilt in der Partei als nüchternes Korrektiv zu Habeck, der manchmal zum Überschwang neigt. Und sie hat in eineinhalb Jahren aus dem Nichts heraus ein enormes Standing entwickelt. Nicht zuletzt hätte sie viele Frauen hinter sich.
Schließlich verstehen sich die Grünen als feministische Kraft, die Frauen bei gleicher Eignung bewusst nach vorne schiebt. Als die taz Ende Mai in einem Debattenbeitrag darauf hinwies, dass es seltsam sei, dass nur Habeck, der Mann, für die Kanzlerkandidatur gehandelt werde, wurde dieser auf Twitter über 800 Mal geliked.
Viele grüne Frauen sehen nicht ein, warum Habeck im Rennen ums Kanzleramt gesetzt sein sollte. „Ich würde sehr gerne in einem Land leben, in dem Annalena Baerbock Kanzlerin ist“, twitterte etwa die Grüne Alexandra Geese, die bald im Europaparlament sitzt.
Selbstbewusst gegen Alphamännchen
Baerbock hat in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass sie sich von Alphamännern nicht die Butter vom Brot nehmen lässt. Sie setzt selbstbewusst Akzente, auch bei heiklen Themen wie der Migrationspolitik. Sie hat kein Problem damit, Habeck in kleiner Runde zurecht zu stutzen, wenn er sich zu sehr spreizt.
Ihr Selbstbewusstsein zeigte sie schon ganz am Anfang, im Dezember 2017, als sie ihren Hut für den Parteivorsitz in den Ring warf. Habeck hatte damals der taz ein Interview gegeben, in dem er seine eigene Kandidatur ankündigen wollte. Kurz vor dem Erscheinungstermin steckte Baerbock einer Nachrichtenagentur, dass sie selbst antreten werde, ohne sich groß in der Partei abzusprechen.
Während Habeck noch Parteifreunde anrief, um sie zu informieren, preschte sie an ihm vorbei – und setzte selbst die Schlagzeilen. Das grüne Rennen um die Kanzlerkandidatur könnte spannender werden, als manche denken.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Nichtwähler*innen
Ohne Stimme