Grüne Landesvorsitzende im Interview: „Lompscher muss sich ranhalten“
Die Grünen-Landeschefs Nina Stahr und Werner Graf ziehen nach einem Jahr R2G positive Bilanz, drängen aber die Bausenatorin. Zum Jamaika-Aus haben sie gemischte Gefühle.
taz: Frau Stahr, Herr Graf, haben Sie in den vergangenen Wochen erste Anzeichen von Schizophrenie verspürt?
Nina Stahr: Inwiefern?
In Berlin regiert Rot-Rot-Grün seit einem Jahr, im Bund drohte Jamaika und beides musste den Mitgliedern verkauft werden. Das war doch eine extreme politische Spreizung.
Stahr: Wir versuchen, grüne Projekte umzusetzen, und schauen, mit wem wir das am besten hinkriegen. In Berlin gab es eine rot-rot-grüne Mehrheit, auf Bundesebene nicht. Wir haben trotzdem versucht, grüne Inhalte umzusetzen. Das hat erst mal nicht geklappt.
Werner Graf: In Berlin nehmen wir richtig viel Geld in die Hand und investieren – in Verkehr, in Schulen und Straßen. Wir wollen zusammen etwas verändern. Diesen gemeinsamen Geist habe ich bei den Verhandlungen im Bund vermisst.
Das heißt, Sie bedauern das Scheitern der Jamaika-Gespräche nicht?
Graf: Das Vertrauen war nicht da. So, wie das gelaufen ist, fehlte mir die Fantasie, dass eine Koalition vier Jahre halten könnte. Aber aus einer staatspolitischen Verantwortung heraus hätte ich mir natürlich gewünscht, dass wir da etwas mit einer grünen Handschrift hinbekommen.
Weil ihre Bundespartei an diesem Wochenende nach dem Sondierungsende eigentlich über eine Jamaika-Koalition diskutieren wollte, musste der hiesige Landesverband seinen Parteitag – offiziell: Delegiertenkonferenz – um eine Woche auf den 2. Dezember verschieben, aufs erste Adventswochenende also.
Nun gibt es zwar kein Jamaika-Bündnis, aber trotzdem noch jede Menge zu diskutieren: an diesem Wochenende in der Arena in Treptow, am kommenden im Tagungswerk Jerusalemkirche in Kreuzberg. (sta)
„Staatspolitische Verantwortung“ – das ist auch eine eher neue Wortwahl bei den Grünen.
Stahr: Wenn ich Politik mache, muss ich bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Ob ich das jetzt so nenne oder Gestaltungswillen, ist zweitrangig. Aber wenn ich dazu nicht bereit bin, brauche ich keine Politik zu machen.
Für die Grünen wären Neuwahlen jetzt das Beste: In der jüngsten Forsa-Umfrage schneidet Ihre Partei mit 12 Prozent weit besser ab als bei der Wahl Ende September.
Stahr: Nee! Ich finde, da macht man sich einen schlanken Fuß. Das würde bedeuten: Es passt uns nicht, wie die Leute abgestimmt haben, und jetzt sollen sie mal neu wählen. Die Leute haben aber schon am 24. September ihr Kreuz gemacht und uns vorgegeben, mit dem Ergebnis umzugehen. Es kann doch nicht das Ziel sein, immer dann Neuwahlen anzustreben, wenn meine Partei in Umfragen möglichst gut abschneidet.
Graf: Es ist bescheuert, Politik à la Theresa May zu machen. Und bei der britischen Premierministerin sieht man ja auch, wie man sich täuschen kann, wenn man aus Umfragen auf einen hohen Wahlsieg schließt.
Wie soll es denn sonst im Bund weitergehen? Die SPD will ja nicht.
Graf: Man muss jetzt alle Möglichkeiten ausloten, doch noch eine Regierung hinzubekommen. Wenn man es ein Jahr lang versucht hat, ohne dass es klappt, dann kann man immer noch Neuwahlen durchführen. Aber das gleich zu fordern, nachdem der erste Versuch einer Regierungsbildung gescheitert ist, das ist hochgefährlich.
Stahr: Und da sehe ich wirklich die Verantwortung bei der SPD. Um 18.01 Uhr am Wahlabend zu sagen: „Oh, schlechtes Ergebnis, wir sind jetzt beleidigt und spielen nicht mehr mit“ – das geht nicht, da kommt die Partei ihrem Auftrag nicht nach. Es ist nicht in Ordnung, sich zur Wahl zu stellen und nachher bei einem schlechten Ergebnis zu sagen: Regieren wollen wir nicht.
Werner Graf
1980 in Bayern geboren, studierte Politikmanagement, war Sprecher der Grünen Jugend und Vorstandsmitglied der Kreuzberger Grünen.
Wird darüber auch diskutiert werden am Samstag beim Bundesparteitag der Grünen in der Arena in Treptow? Denn so ein bisschen ist Ihnen ja das Thema abhandengekommen, nachdem Jamaika geplatzt ist.
Graf: Wir werden über alles diskutieren: ob die Verhandlungsgruppe richtig aufgestellt war, ob bestimmte Kompromisse richtig waren und auch wie es weitergehen soll.
Ist denn jetzt Rot-Rot-Grün wie hier in Berlin wieder ein Zukunftsmodell?
Stahr: R2G in Berlin funktioniert. Wir haben beispielsweise das Sozialticket verbilligt, wir haben den Kohleausstieg beschlossen. Auf Bundesebene kann R2G auch funktionieren, wenn alle dazu bereit sind. Aber ich sehe derzeit bei der Linkspartei eine Sahra Wagenknecht, die nicht weit entfernt ist von Horst Seehofer …
… aber gerade mit dem lief es doch am Ende in der Jamaika-Sondierung überraschend gut!
1982 in Frankfurt/M. geboren, Lehrerin für Englisch und Geschichte, war bis Ende 2016 im Bezirksparlament im schwarz-grün regierten Steglitz-Zehlendorf und ist seitdem Co-Vorsitzende der Berliner Grünen.
Stahr: Weil am Ende beide Seiten aufeinander zugegangen sind und es nur an der FDP gescheitert ist. Seehofer hat sich bewegt! Ich schließe nicht aus, dass sich auch Wagenknecht irgendwann mal bewegt und von ihren teilweise rechtspopulistischen Forderungen wegkommt. Dann kann R2G funktionieren.
Wäre es nicht an der Zeit, nach dem Scheitern von Jamaika grundlegend über Strukturen zu reden und darüber, linke Mehrheiten in der Gesellschaft hinzubekommen?
Graf: Wir hatten ja schon mal eine faktische linke Mehrheit im Bundestag, ohne dass sie genutzt wurde. Ich fand es auch schade, dass sich die SPD vor der Bundestagswahl so früh von R2G verabschiedet hat, nachdem die Landtagswahl im Saarland verloren ging und man dachte, ein Festhalten an Rot-Rot-Grün könnte schaden. Ich finde es wichtig, endlich wieder für eine linke progressive Regierung zu kämpfen.
Wenn wir auf R2G in Berlin gucken: Da wurde im Herbst versprochen, wir übernehmen den Entwurf des Radgesetzes; später hieß es, bis März ist das in trockenen Tüchern. Tatsächlich aber ist immer noch nichts beschlossen.
Stahr: Unsere Senatorin Regine Günther hat aber sogar bewusst einzelne Planungen für Radwege angehalten, weil sie keine einfachen Radstreifen wollte, die gar nicht mehr Sicherheit für Radfahrer bedeuten. Die Protected Bike-Lanes etwa sind viel effektiver als einfache Radstreifen …
Das steht doch auch gar nicht zur Debatte, das steht ja auch genau so im Entwurf des Fahrrad-Volksbegehrens – die Frage ist: Warum gibt es das Gesetz noch nicht?
Stahr: Uns wäre es auch lieber, wenn es schneller gehen würde. Aber ich habe lieber ein Gesetz, das Hand und Fuß hat, als einen Schnellschuss. Der Gesetzentwurf wird voraussichtlich im Dezember im Senat beschlossen und hoffentlich im nächsten Frühjahr im Abgeordnetenhaus. So etwas gibt es in keinem anderen Bundesland, das ist revolutionär – da finde ich ein Jahr in Ordnung, und wir haben ja noch vier Jahre für die Umsetzung.
Beteiligte am Gesetzgebungsprozess haben der SPD immer wieder vorgeworfen, sie würde das Radgesetz blockieren – aus Eigeninteresse.
Graf: Das würde ich so nicht sehen. Die SPD hat ein anderes Klientel. Sie hatte Ängste, dass wir die Autofahrerinnen und Autofahrer komplett benachteiligen würden. Als wir gemeinsam den Gesetzestext durchgegangen sind, hat die SPD sehr schnell gemerkt, dass das nicht der Fall ist.
Aber davor habe sie jede Chance genutzt, das Gesetz hinauszuzögern.
Graf: Jede Chance? Das weiß ich nicht. Wir haben uns bewusst für ein Gesetz entschieden, das passt und das dann nicht von Gerichten nach drei Monaten kassiert wird.
Sie haben ein Jahr gebraucht, um das zu erkennen?
Graf: Normalerweise dauert es in Berlin zwei Jahre, bis ein Gesetz fertig ist. Wir haben das in einem Jahr geschafft – und das mit Beteiligung der Verbände inklusive ADAC und Radinitiativen. Man muss zu seinen Ansprüchen stehen: Wir waren immer für die Beteiligung von möglichst vielen Gruppen. So etwas kostet Zeit. Vielleicht haben wir im Fall des Radgesetzes am Anfang falsche Versprechungen gemacht, vielleicht haben wir am Anfang der Regierungszeit auch geglaubt, der Tag habe mehr als 24 Stunden – das war der Euphorie geschuldet.
Schauen Sie manchmal neidisch auf die bessere Performance der Linkspartei?
Graf: Ich sehe da keine bessere Performance.
Bei der Bundestagswahl hat die Linke in Berlin deutlich zugelegt und sogar die SPD überholt.
Stahr: Die Linken verkaufen vielleicht ihre Erfolge besser als wir. Das heißt aber nicht, dass sie mehr Erfolge haben. Wir sind mehr damit beschäftigt, die Dinge wirklich umzusetzen, und machen dann vielleicht einen Facebook-Post weniger. Uns geht es darum, die Dinge inhaltlich nach vorne zu bringen. Und ich bin sehr optimistisch, dass wir in fünf Jahren sehr viel nach vorne gebracht haben werden.
Die drei linken SenatorInnen sind sehr präsent, sie haben sich mit Arbeit, Wohnen und Kultur drei zentrale Themenbereiche gesichert. Bei den grünen Senatoren hat man das Gefühl, die wursteln in ihrer Nische vor sich hin.
Stahr: Verkehr ist keine Nische. Auch Wirtschaft, um die sich Ramona Pop als Senatorin kümmert, ist ein Thema, das die Stadt unbedingt braucht. Es ist aber schwieriger zu vermitteln als einfach zu sagen, wir haben gerade 1.000 Wohnungen fertiggestellt. Unsere Senatorinnen und Senatoren machen da einen sehr, sehr guten Job. Und es bleibt dabei: Das ist ein Langstreckenlauf und kein Sprint, und erst vor der Wahl wird abgerechnet.
Graf: Wir sind im Übrigen auch gegenüber den Linken ungeduldig. Ihre Kritik an der Verkehrssenatorin, dass es dort nicht schnell genug vorangehen würde, gilt ja auch für andere Bereiche. Etwa bei den Geflüchteten…
… für die Linkspartei-Senatorin Elke Breitenbach zuständig ist.
Graf: Wir werden auf dem Landesparteitag Anfang Dezember darüber diskutieren, wie wir mit Geflüchteten, die vor zwei Jahren gekommen sind, umgehen. Der Leerzug der Turnhallen kann es ja nicht gewesen sein. Wir brauchen einen Landesplan für Integration. Wir müssen die Bezirke stärker unterstützen, die Volkshochschulen, die Bibliotheken, die Sportvereine. Die Willkommensklassen dürfen nicht zu faktischen Regelklassen werden: Junge Geflüchtete müssen in die normalen Klassen reinkommen. Wir wollen, dass da mehr geschieht.
Stahr: Wir werden auch Stadtentwicklungssenatorin Lompscher weiterhin in die Pflicht nehmen, dass bezahlbarer Wohnraum gebaut wird. Sie hat ja gesagt, sie hätte nicht ganz so viel erreicht wie geplant – meine Güte, wir waren mit dem Radgesetz auch nicht so schnell wie erhofft. Da haue ich nicht drauf. Aber sie muss sich ranhalten, gerade beim Wohnungsbau.
Eine klare Niederlage für Rot-Rot-Grün war der Volksentscheid zu Tegel. Herr Graf, Sie hatten im Vorfeld versprochen, dass die Koalition die Abstimmung gewinnen wird. Wieso haben Sie Ihr Versprechen nicht gehalten?
Graf: Wir konnten immerhin die Debatte drehen – noch ein paar Wochen mehr, und wir hätten vielleicht gewonnen. Aber noch zwei Tage vor dem Entscheid haben mich Freunde gefragt: „Was ist eigentlich mit diesem Tegel? Wie stehen die Grünen dazu, und warum gab es da keine Debatte?“ Ich war erschrocken: Die Zeitungen waren zwar voll davon, aber wir haben nicht alle erreicht. Am Ende hat das Ergebnis gezeigt, dass die Stadt bei Tegel zumindest gespalten ist und nicht klar für Tegel.
Das erklärt nicht, warum Sie Ihr Versprechen nicht halten konnten.
Graf: Wir hätten früher in die Debatte reingehen müssen. Wir haben das Thema zu spät ernst genommen – erst, als das Begehren die zweite Hürde genommen hat.
Hat die Tegel-Niederlage die rot-rot-grüne Koalition, die ja durchaus auch ihre dunklen Tage hatte, in ihrem ersten Jahr, enger zusammengebracht?
Graf: Wir haben sehr solidarisch gekämpft. Das hat uns vereint. Und dieses Schlechtreden von Rot-Rot-Grün hier in Berlin – so ist es doch nicht. Natürlich hat nicht alles sofort einhundertprozentig geklappt, und ich verstehe die Ungeduld – aber wir haben sehr viele Baustellen sehr schnell angepackt. Die Turnhallen sind nicht mehr belegt, wir stellen wieder Personal ein, die Situation auf den Ämtern sieht deutlich anders aus…
… auf Heiratstermine muss man immer noch lange warten.
Graf: … ich kenne Leute, die gerade geheiratet haben, und das ging schnell. Aber Berlin wurde 20 Jahre lang kaputt gespart – das kann man nicht innerhalb eines Jahres komplett rückabwickeln.
Stahr: Tegel hat die Koalition ein Stück weit zusammengeschweißt. Aber der Anspruch, Rot-Rot-Grün müsse in allen Fragen der gleichen Meinung sein, ist falsch. Wir sind nach wie vor drei Parteien, drei Fraktionen, die sich auf ein gemeinsames Projekt verständigt haben. Und wir können den Menschen in der Stadt auch mal zumuten, dass wir unterschiedliche Meinungen haben und gemeinsam um den besten Weg ringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht